Die meisten Bilder verschwinden schon, sobald sie das Tageslicht erblicken. Sie versinken unbeachtet in der Bedeutungslosigkeit. So wie mancher Witz, den man gleich nach seiner kleinen Pointe schon vergisst. So wie manche Menschen, deren Spur sich nirgends findet als in den Karteikarten eines verwalteten Lebens, das irgendwohin verschwand. Eugenio Dittborn, seit den Achtzigerjahren eine der einflussreichsten Stimmen der Kunst Lateinamerikas, hat jüngst dem kurzen, ephemeren Aufscheinen und Verschwinden von Bildern, Menschen – und Witzen – einige Serien von Zeichnungen gewidmet.
Dittborn nimmt auf, was am Straßenrand der Bildwürdigkeit liegt. Fotos und Illustrationen aus zweitklassigen Zeitschriften, anonyme Zeichnungen, gefundene Zettel. Unter der Hand des Zeichners kehren die aufgelesenen Motive in Variationen wieder. Dittborn baut ihnen mit Linien eine neue Präsenz und Geschichte auf das Papier. Schwarze Tusche und weißes Liquid Paper (das „flüssige Papier“ ist auf Deutsch weniger hübsch als Tipp-Ex bekannt) zeigen und verbergen sich auf der Bildfläche, sind immer unterwegs zu einer Figur, die niemals sicher ist und im nächsten Schritt eine andere sein wird
Es ist eine melancholische Figur. Jedes Bild beginnt als Fortsetzung eines Themas, das niemanden wirklich interessierte. Jedes Motiv geht zurück auf eine Quelle, die nicht mehr fließt, und entwickelt sich nun ohne seine Geschichte weiter zu einer neuen, sprunghaften Abfolge von Augenblicken. Das Thema liegt im Zentrum von Dittborns Werk: Während der Pinochet-Diktatur in Chile verschwanden Tausende spurlos. Zuvor radierten Kolonialregime Leben und ihre Geschichten aus. Kultur und Identität – beide wurden immer wieder zum Verschwinden gebracht, von Macht und Gewalt verschluckt, marginalisiert
Vor diesem Hintergrund entwarf Eugenio Dittborn ab 1986 eine eigene Werkform, seine Airmail Paintings, die ihn international bekannt machten. Es waren Bilder, die zusammengefaltet auf Reisen gingen, um auf Ausstellungen rings um die Welt entfaltet und gesehen zu werden, während zu Hause, in Chile, Zensur galt. Was sie zeigten, waren die Spuren des Ungewissen in einer Gesellschaft, in der das Verbergen und Bezeugen, Verdrängen und Vermuten, Behaupten und Widersprechen, Sterben und Schmunzeln den asynchronen Rhythmus des Alltags unter einem Regime der Repression darstellten.
Es ist dieser Rhythmus, der auch Dittborns Zeichnungen prägt. Sie sind die Wiederkehr des Ungefähren, das am Rand der Wahrnehmung liegt und jetzt Form wird. Bis die nächste Form die erste einholt. Das alles ist an sich nicht witzig. Witzig ist indes, wohin es die Motive treibt, wenn der Zeichner ihnen eigenen Raum gibt, sich frei von ihrem Ursprung zu entwickeln. Und wie ein Strich und ein anderer Strich den Tanz um die Sichtbarkeit bis zu einem absurden Ringen um Perspektiven und Bedeutungen treiben können. Ein Ringen um Trug, Behauptung und Nichtwissen, falsche Logik und, ja, auch anarchischen Geist.