KOW zieht um. Am 26. April eröffnen wir neue Räume in der Lindenstr. 35 zwischen dem Jüdischen Museum und dem Springerverlag. Während des Gallery Weekends ist parallel noch die Ausstellung Ostalgie von Henrike Naumann in der Brunnenstr. 9 zu sehen. Wir begannen unser Programm im Februar 2009 mit Franz Erhard Walther – nun macht er erneut den Auftakt zu einem weiteren Kapitel der Galeriegeschichte, diesmal im Trio mit den amerikanischen Künstlern Michael Clegg & Martin Guttmann. Menschen brauchen Regeln. Sie zu befolgen ist eine soziale, politische und wirtschaftliche Notwendigkeit. Manche Regeln finden wir gut, andere nicht, wir erfinden sie, biegen und brechen sie. Die drei Künstler, die wir zeigen, haben sich lange schon damit befasst, wie Regeln funktionieren, welche Macht sie über uns haben, und auch, wie man sie besser verstehen, ihnen ein Schnippchen schlagen oder sich neue ausdenken kann. Unterschiedlich sind die drei in der Art und Weise, wie sie Regeln betrachten, formen, verzerren oder auflösen. Gemeinsam ist ihnen die kritische und spielerische Aufmerksamkeit für das, was man als Fallstricke partizipatorischer Kulturen bezeichnen könnte: echte und nur scheinbare Bewegungsfreiheit von Geist und Körper, tatsächliche oder lediglich empfundene Barrieren des Subjekts bei seinem Marathonlauf in Richtung des demokratischen Versprechens – der Selbstbestimmung innerhalb der Normen einer institutionalisierten Solidargemeinschaft. Wem die Idee der gesellschaftlichen Teilhabe gefällt, der kann in der Ausstellung amüsiert studieren, wie dieses politische Konzept gefeiert und deformiert, durchlöchert und gefoppt wird.
Im Erdgeschoss der Galerie laden wir ein, Objekte aus Franz Erhard Walthers Erstem Werksatz (1963–1969) selber zu erkunden und gemeinsam zu benutzen. Erstmals ist es auch möglich, einzelne Stücke auszuleihen und außerhalb der Ausstellungssituation zu verwenden. Im Rückblick auf ihre Entstehungszeit in den Sechzigerjahren wird deutlich, wie progressiv die 58 Stücke des Ersten Werksatzes waren. Nach der Katastrophe und den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges scheinen Walthers Handlungsobjekte eine neue Verlässlichkeit anzubieten. Sie diktieren keine Regeln, sondern zeigen mit der ihnen eigenen formalen Rationalität, wie bestimmte Motive des Tuns und der Interaktion auf die Wahrnehmung des eigenen Selbst und der Umwelt einwirken. Sie markieren ein Verhältnis zwischen dem, was gegeben ist und zu dem man sich verhalten muss, und dem eigenen Spielraum aus Gewahrsein, Entscheiden und Handeln, Akzeptieren oder Abweichen. Insofern geben sie einer Freiheit Gestalt, die eben nie aus Regellosigkeit besteht (der Freiheit von), sondern aus der Möglichkeit, sich zu entschließen (der Freiheit zu). Für Walther gibt es kein Werk ohne seinen sozialen Kontext, ohne eine Lebenswelt, von der es ein Teil ist, ohne die Ziele und Zwecke, das Offene und das Begrenzte, die unser Tun prägen. Das macht sein Oeuvre zutiefst human. Weitere Arbeiten aus späteren Jahren zeigen, wie der gebürtige Fulderaner seine künstlerische Haltung fortentwickelte: Proportionsbestimmungen (1962/1972), Sprich Nicht III (1980) und neueste Werke aus dem Zyklus Body Shapes (2019).
Michael Clegg und Martin Guttmann verfolgen demgegenüber seit den frühen 1980er Jahren einen analytischen Ansatz, für den die poststrukturalistische Soziologie und spezifische historische Themen zentral sind. Sie zeigen skulpturale und installative Arbeiten, die dem Tun und dem Denken Regularien vorgeben, wie mit ihnen zu verfahren ist – um uns dann in der Erfahrung des Werkes unerwartete Zwänge und Disruptionen erleben zu lassen. Cognitive Exercise III: Continuous drawing / Exquisite Corpse (2006) ist ein Turm aus fünf schwarzen Kuben, die sich einzeln drehen lassen und dazu einladen, sie mit Kreide zu bemalen. Das soziale Miteinander in einem kreativen Prozess zeitigt Ergebnisse, die sich jeder Planung und Kontrolle entziehen. Humiliation II (2019) greift ein Folter- und Reglementierungsinstrument auf, das im Mittelalter populär war. Insbesondere wenn Frauen in den Augen von Männern zu viel stritten oder plauderten, zwangen letztere erstere in eine Art Holzfass, um ihren Disput dort auszutragen. Das Objekt bietet sich an, eben jene Position der Aushandlung in einem skulpturalen Regime selbst einzunehmen. Ein Arrangement aus Schlagzeug und Metronom, Cognitive Exercise No. B2: Syncopating with the machine beat (2006), nötigen das Subjekt, den individuellen Ausdruckswillen einer maschinellen Logik anzupassen.
Auch Clegg & Guttmanns fotografische Portraits sind Instrumente, mit denen die Künstler sich und ihr Gegenüber in Regelwerke einbinden, die zu Akzeptanz oder Dissens, Kollaboration oder Zurückweisung führen. Jedes Portrait beruht auf Spielregeln, die das Verhalten der Beteiligten bei der Entstehung der Fotografie steuern und im Werk selbst wirksam sind. So bei den Rejected Commissions (1980er): Es sind Auftragsarbeiten, deren Auftraggeber – zum Beispiel Klaus Wowereit, Allegory of Government (2011) – sich in Szene setzen, aber erst im Nachhinein entscheiden, ob sie ihr Abbild mögen und kaufen oder nicht. Wowereit kaufte nicht. Bei den Collaboration Portraits hingegen arbeiten die Fotografen mit ihrem Modell zusammen. So entstand 1993 Cardinal Red in Kollaboration mit Franz Erhard Walther, der für die Aufnahme seine eigene Arbeit Roter Wechselgesang aktivierte. Anschließend gab Walther die Arbeit Clegg & Guttmann und bekam im Tausch das Foto. In ihren neuesten Fotografien, den Projection Portraits von 2019, kontaminieren projizierte Bilder die Körper und Gesichter der portraitierten Personen. Sie deformieren deren Darstellung, machen die Repräsentation zu einer Anomalie des Selbst, zu einer Schlitterpartie der sozialen Rollenzuschreibung und der psychologischen Spekulation.
Mit der Balance zwischen Selbstbestimmung und den Tücken der Interaktion ist das also so eine Sache. Die Regime von Identität und Repräsentation, von Selbstausdruck und Fremdbestimmung legen manche Schlingen um den Hals und die Gedanken des Subjekts, sie können aber auch Mittel sein, um sich aus solchen Schlingen zu befreien. Während Franz Erhard Walther das Augenmerk darauf legt, dass bestimmte Formen der Übereinkunft eine demokratische Gemeinschaft zusammenhalten, in der jeder seine Position erkennen und akzeptieren kann, sehen Clegg & Guttmann das Soziale als unablässig durchzogen vom Tauziehen widerstreitender Kräfte: „Wann immer etwas demokratisch erscheint, muss man die Gewalt suchen, die Menschen dazu bringt, sich in eine Richtung zu bewegen.“