Alice Creischers dritte Ausstellung bei KOW ist ein Stück deutscher politischer Gegenwart. Und dabei auch ein Stück politischer und künstlerischer Kontinuität. Im Untergeschoss der Galerie stottern die Werke sich durch gesellschaftliche Entwicklungen während der letzten dreißig und mehr Jahre, die so häufig kritisch beschrieben wurden, dass man heute kaum noch weiß, wie man wieder, und weiter, und noch einmal darüber sprechen kann, während der scheinbar unaufhaltsame politische Klimawandel dem kritischen Denken immer wieder, und noch einmal, die Sprache verschlägt. Kann doch alles nicht wahr sein. Ist es aber. Und es zeigt sich ungeschminkt.
Creischers Ausstellung ist ein Kopfschütteln über die eigene deutsche Geschichte und wohl auch über das permanente Nachdenken darüber. Im Krieg gegen die Franzosen brachten sich die Deutschen endlich unter eine Krone. 1871 gründeten sie ihr Reich als Besatzungsmacht im okkupierten Versailles. Eine der ersten Heldentaten der jungen Nation war die Unterstützung der französischen Reaktionäre bei der Zerschlagung einer der fortschrittlichsten politischen Bewegungen des Jahrhunderts, der Pariser Commune. Sie fand ihr Ende mit preußischer Hilfe in Massenhinrichtungen. Es folgten die deutschen Kolonialabenteuer mit ihren Genoziden und Deportationen, und so ähnlich ging es dann ja weiter.
Und heute? Heute fallen im Freizeitpark Tropical Islands reihenweise deutsche Kinder um. Immer wieder. Und erneut. Wie immerzu erschossen in den exotischen Kulissen eines falschen Wohlstandsparadieses. Da wo heute Palmen unter falschem Himmel stehen, scheiterte einst das aufsehenerregende Aufbau-Ost-Projekt Cargolifter. Das sollte neue Zeppeline bauen, um deutsche Güter in schwer erreichbare Absatzmärkte zu transportieren. Ein Schelm, wer darin eine kolonialistische Konjunkturmaßnahme sieht. Die Kinder jedenfalls, die fallen dort noch einmal. Still, tonlos und lakonisch. Sie tragen die Kleidung der Pariser Kommunarden, die für die Idee der Gleichheit Schüsse in Brust, Bauch und Beine kassierten. Ob das alles irgendetwas miteinander zu tun hat? In dieser sonderlichen deutschen Geschichte?
Aber die Zeit heilt Wunden. Und wenn nicht die Zeit, dann die Ärzte. Sie helfen den Kindern, den Armen, so wie sie auch den Soldaten halfen, die aus dem Bombenhagel des ersten Weltkriegs so traumatisiert herauskamen, dass sie vor Zittern nicht mehr stillhalten konnten. Aber das bekamen die deutschen Ärzte in den Griff. Sie stellten mit ihrer Heilkunst die Soldaten wieder in Reih und Glied auf, um bereit zu sein für den nächsten Weltkrieg. Und auch heute, wo ja Frieden herrscht, brauchen wir unsere Ärzte. Etwa beim Aufstellen der prekären Arbeiterarmeen aus kleinen Selbstunternehmern, die zwischen Burnout und Mietsteigerung tüchtig am Ball bleiben, solange die Spritzen wirken und die Klinik funktioniert. Und so läuft das hierzulande heute eigentlich ganz gut.
Ja, eigentlich können wir ganz stolz sein. Der deutsche Pass, der ist was wert. Drum hat er auch seinen Preis. Er kostet die Leben derer, die ihn auch gerne hätten. Seit dem deutschen Vordenker Hegel ist das der Lauf der Geschichte: Die bürgerliche Gesellschaft macht manche reich und manche arm. Und die Armen, der Pöbel, wird natürlich sauer gegen die Reichen und also zum Feind der Gesellschaft. Er ist das Böse. Um dieses Böse einzuhegen braucht es den Staat, die Polizei und den Krieg. Sie sichern Frieden und Wohlstand. Ob Hegel wusste, wohin das führt? Denn heute, mit der globalisierten Expansion der bürgerlichen Gesellschaft, dehnt sich auch das Böse immer weiter aus und schwappt über unsere Grenzen zurück zu seinem Ursprung. Zu uns. Dagegen muss man Pässe kontrollieren, Grenzen dichtmachen, Sicherheit schaffen.
Und in Sachen Sicherheit, da ist Deutschland Weltklasse. Sicherheit schaffen, das ist eine Rolle Deutschlands in der Welt. Hat Bundespräsident Joachim Gauck gesagt. 2014 anlässlich der Münchner Sicherheitskonferenz. Vertretern der Rüstungsindustrie und der großen Wirtschafts- und Strategieberatungen schrieb er ins Auftragsbuch: Die militärischen Allianzen Deutschlands sind wertebasiert. Sie sichern den Frieden, die Menschrechte und die Sicherheit aller. Mit deutschen Werten. Und von denen haben wir viele: Kant, Hegel, Höcke, Siemens, Bertelsmann, Bild – man weiß gar nicht, wo man anfangen soll
Allein die Bild-Zeitung. Was wäre Deutschland in der Nacht, würden nicht Bildreporter sich um den Schlaf bringen, um uns am Morgen mit dem Wichtigsten des Tages zu versorgen. 1992, als in Deutschland Neonazis aufmarschierten und die Flüchtlingsheime brannten, titelte die Chemnitzer Ausgabe von Bild, was das Land bewegte: „Asylanten jetzt auf Schulhöfe. Jede Minute kommen zwei neue.“ Das hatte Schmiss. Was soll man dazu noch sagen? Alice Creischer küsste kurzerhand die Zeitung rund 150 mal, bis sie übersäht mit rotem Lippenstift kaum mehr lesbar war. „Küsst die Faschisten, wo ihr sie trefft!“, dichtete Kurz Tucholsky 1931. Vor einigen Wochen fing Creischer mit dem Küssen wieder an. Seehofer, Maaßen, ach, man könnte gar nicht mehr damit aufhören, Deutschland zu küssen
Das alles lässt sich mit den Begriffen einer kritischen Kunst nicht mehr wirklich beschreiben. Alice Creischers Ausstellung ist ein lakonischer Alptraum in den Formen politischer Lyrik, kippeliger Skulptur und mehr oder weniger ephemerer Gesten. Sie ist nicht etwa mahnend oder harsch oder bitter. Sie ist witzig. Mindestens humorig. Creischers Arbeiten sind eine Art des Umgangs mit dem komplizierten Material Gesellschaft, das auch das eigene Leben enthält. Und da kommt man aus dem Staunen nicht mehr raus. Da hört man schon mal Schüsse oder Marxzitate fallen, wenn nicht gar die Stimme des Herrn (His Master’s Voice, Titel der Ausstellung). Genug zum Weitergrübeln also. Gut so. Denn „der Gedanke ist keine These. Er hat also eine Bedeutung, die Sache des Handelns ist.“ (Alice Creischer)