Christian Schellenbergers (*1980) bevorzugte Ateliersituationen sind beengte Zugabteils und hohe Fahrtgeschwindigkeiten – erschwerte Bedingungen für die zeitgenössische Kunst. Die erste Museumsausstellung des Künstlers, der an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig bei Peter Piller und Katrin von Maltzahn studiert hat, konzentriert sich auf 54 Tuschezeichnungen, die zwischen 2014 und 2017 auf mehreren Zugfahrten zwischen Berlin und Peking entstanden sind. Den statischen Gegenpol bildet eine raumbezogene Wandzeichnung, die Schellenberger eigens für die Ausstellung realisiert hat.
Die Reisedauer vom Berliner Bahnhof Lichtenberg nach Peking beträgt neun Tage, mit Stationen in Krakau, Lviv, Kiew, Moskau, Irkutsk und Ulaanbaatar. Während der Fahrt zeichnet Schellenberger mit Tusche und Feder auf DIN A2 Papier, was für ein Zugabteil relativ groß ist. Tagsüber ist der Sitzplatz mit kleiner Tischkonsole im Sechserabteil sein Atelier, nachts der zur Liege ausgeklappte Sitz. Ständige Begleiter sind der Ausblick auf endlose Landschaften und gelegentlich vorbeiziehende Stadt- und Dorfsilhouetten.
Christian Schellenbergers Zeichnungen sind keine zeitgenössischen Interpretationen von Landschaftskunst. Nicht allein der Blick aus dem Abteilfenster, auch die Geräusche und Bewegungen des Zuges und der Mitreisenden sind maßgeblich für die Werkgenese. Voraussetzung für den Zeichner Schellenberger ist eine totale Beanspruchung der Sinne. Dazu gehören optische und akustische Eindrücke, aber auch unfreiwillige körperliche Bewegungen, die durch das Rütteln des Zuges ausgelöst werden. Schellenberger entwickelt unter den sozialen Eindrücken des Zugalltags ein zeichnerisches Form-Rhythmus-Äquivalent. Die an Hieroglyphen erinnernden Bildzeichen verzahnen sich zu einem endlosen Kettenornament und vollziehen unmerkliche Metamorphosen. Doch im Unterschied zum ruhigen Rückzugsort eines konventionellen Ateliers ist der Zeichenrhythmus – vom Künstler als »Flow« bezeichnet – durch die äußeren Umstände eines beengten Zugabteils ständig gefährdet einzubrechen. Auf dem Zeichenpapier entstehen dann Brüche und Sprünge. Schellenbergers Zeichnungen unterliegen keinem kompositorischen Gesamtplan. Sie nehmen einen Rhythmus auf, doch wohin dieser führt und wie lange dieser auf dem Papier anhält, ist offen. Die Bildresultate sind entsprechend geprägt von einem abstrakten, nach Kontrolle ringenden Zeichenduktus in Rot und Blau. Sie sind Kartographie und Kritzelei in einem.
In der Ausstellung treffen die Zugzeichnungen auf eine Wandzeichnung, die Christian Schellenberger unter gänzlich konträren Voraussetzungen angefertigt hat. Das fahrende Zugabteil verwandelt sich in einen still stehenden musealen Ausstellungsraum, der sich durch Größe und Ruhe auszeichnet. Hier kann sich der Künstler frei und ungehindert vor der entstehenden Wandzeichnung bewegen. Eine Normalisierung der Arbeitsbedingungen hat sich eingestellt, die eine andere Form von Konzentration zulässt. Was stattfindet ist eine Einschreibung von Zeit im Medium der Zeichnung, für deren Vollendung Schellenberger in etwa dieselbe Dauer benötigte wie ein Schnellzug von Berlin nach Peking.