“Further up & Further in” ist Erik Schmidts dritte Einzelausstellung in der Galerie Krinzinger. Am 8. November 2017 fällt Wu Yongning vom Dach. Um genau zu sein, hatte der Rooftopper im 62. Geschoß des Huayuan International Centres Klimmzüge an der Fassade performt, dann den Halt verloren und war schließlich in die Tiefe gestürzt. Der Chinese hatte durch seine extremen Aktionen, bei denen er hunderte Wolkenkratzer bestieg und auf den Dächern und Masten der Gebäude spektakuläre Bilder und Videos inszenierte und dann in die Social Media Welt hinein postete, eine riesige Fangemeinde gewonnen. In einer Zeit sich weiter verringernder gesellschaftlicher Handlungsräume ist das Rooftopping aktuell die wohl radikalste Form individueller performativer Akte und Inbesitznahme einer Stadt und ihrer gebauten Strukturen, die deren Bewohner ausüben können. Beim Skating, Roofing, der Urban Exploration, dem Buildering oder Parkour geht es darum, den städtischen Raum, Baustellen, Plätze, verlassene Gebäude, Nischen, Lücken, Zäune und Fassaden zu erkunden, zu überwinden und sie auch gegen den Willen der Bauherren und Architekten umznutzen und zu besetzen.
In einem ähnlichen Akt der Aneignung durchstreift, kartiert und transformiert der Künstler Erik Schmidt seit über zwanzig Jahren Bildräume, Zeichensysteme und soziale Ordnungen: Gestrüpp, Wälder, Parkplätze, Jagdgesellschaften, Anzugträger, Demonstrationen, Gebäude, Räume, Straßen, ländliche Regionen, Parks, Parties, Cruising Areas und Stadtlandschaften werden sowohl zum Gegenstand seiner Malerei als auch seiner filmischen Praxis.
Waren in den Arbeiten aus der Serie „Cut/Uncut“ die Metropole Tokio, deren Bewohner, die Hierarchie und Ordnung der japanischen Gesellschaft im Focus seiner bildnerischen Arbeit, stehen in seiner aktuellen Ausstellung „Further up & Further in“ in der Galerie Krinzinger, Stadtraum und Bewohner seiner Heimatstadt Berlin im Mittelpunkt der Betrachtung und Auseinandersetzung. Dazu bestieg der Künstler nicht nur Gebäude, Türme oder Rooftops und fotografierte von dort aus das sich ausbreitende Stadtgebiet - Plätze, Funktionsräume und architektonische Wahrzeichen, sondern erfasste auch jugendliche Poser und Passanten in den Straßen.
Die Farben, mit dem Pinsel als Impasto auf die vergrößerten Prints der Fotos aufgetragen, überlagern die Portraits und Stadtansichten, verdichten sich dort immer wieder zu Feldern oder Mustern, lassen aber auch die darunterliegenden Fotografien durchscheinen, und legen sich dabei wie ein Gewebe über die Körper, Gebäude und Straßen. In den Stadtpanoramen werden einzelne Bildelemente und Details wie Passanten, Fassaden oder Gerüste, teils farbig markiert oder die Bewegungslinien der Straßen oder S-Bahn Trassen nachgefahren und damit Raster, Ordnung und Dynamik der Stadt kartografiert. Die auf die Portraits aufgetragenen Farbspuren und - schlieren verwandeln die abgebildeten Personen und übertragen sie in einen zweiten, affektiven Bildraum. Bei längerer Betrachtung bildet dieser malerische Auftrag eine eigene autonome Zone; die Stadt, ihre Bewohner erscheinen dadurch und darunter als vitalistisches System von Zeichen. Dass Algorithmen heute die Strukturen und das Erscheinungsbild der Städte mitbestimmen, sie überlagern und transformieren - und möglicherweise jetzt schon ihre eigene Wirklichkeit erschaffen, wie Luciana Prisi in „Contagious Architecture“ ausführt – gerät hiermit in das Blickfeld des Betrachters. Flankiert werden die Bilder von einer neuen Videoarbeit: „The Bottom Line“ (2018) zeigt erneut die komplexe Herangehensweise an die Themenfelder seiner künstlerischen Arbeiten. Ausgestattet in schwarz - brauner Funktionskleidung streift der Künstler als eine Mischung aus agilem Stadtstreicher, modernem Touristen oder eben Rooftopper an Mauern und Wänden entlang, quetsch sich durch Engstellen oder versucht an Fassaden und Zäunen emporzuklettern. Dabei nimmt er immer wieder engen körperlichen Kontakt zu den Oberflächen und Texturen der Gebäude auf. Aktionsradien werden aber nur angetestet, die tatsächliche Überwindung von Hindernissen oder das Weiterkommen stehen offensichtlich nicht im Vordergrund. So endet sein Parcour durch die Stadt schließlich vor den ausgedehnten Sicherungsanlagen des neu erbauten Bundesnachrichtendienstes.
„Architektur muss sich mit Bewegung und Aktion im Raum befassen“ äußerte sich der französische Architekt Bernhard Tschumi bereits 1993 zu der Beziehung von Architektur, Raum und Ereignis in einem Interview. So ist auch der stete Versuch der Künstler und Bewohner der Städte ihre Freiräume zu erhalten und neue zu erobern, gleichzeitig auch immer Teil der Prozesse einflussreicher Akteure bei der Weiterentwicklung der Städte und ihrer Raumordnungen.
Erik Schmidt (*1968 in Herford, Deutschland) studierte Design an der Fachhochschule Hamburg und in der „Freie Klasse“ UDK/HDK, Berlin. In seinem malerischen Werk orientiert sich Schmidt an der Materialität der Farbe und ihrer Struktur, die sich durch gestischen Farbauftrag und eine pointilistische Malweise charakterisiert. Neben Malerei und Fotografie schafft der Künstler auch Filme, in denen zumeist der performative Akt im Vordergrund steht. So setzt sich der Künstler selbst als Protagonist ein, taucht in die unterschiedliche gesellschaftlichen Sub- gruppierungen ein und untersucht deren Verhaltenssysteme.
Erik Schmidt lebt und arbeitet in Berlin. Auswahl von Solo- und Gruppenausstellungen: Picha/Bilder - Zwischen Nairobi & Berlin, me Collectors Room, Stiftung Olbricht, Berlin, Deutschland, 2017, Rays around you, Carlier/Gebauer, Berlin, (DE), 2017, Creator Exhibition, Tokyo Wonder Site, Shibuya, Tokio, Japan, 2017, EINBLICKE – IN DIE SAMMLUNG WEMHÖNER, Sammlung Wemhöner, Berlin, (DE), 2014, Downtown, Leopold-Hoesch-Museum, Düren, (DE), 2013, Rollenspiele-Rollenbilder, Museum der Moderne Salzburg, (AT), 2011, Hunting Grounds, Museum Marta Herford, Herford, (DE), 2007.