Ein paar Jahre lang wohnte ich im obersten Stock des Balfron Towers, jener brutalistischen Ikone Ernő Goldfingers. Die ganze Zeit über hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass es Goldfingers Plan gewesen war, eine Straße wie eine Blaupause in ein Stockwerk des Hochhauses zu transferieren. Eine Straße als Stockwerk. Nähme man die Andrew Street, wo, sagen wir, Frau Smith neben den Singhs lebt, die wiederum neben den Folleys wohnen, dann kämen sie alle zusammen in ein einziges Stockwerk. Mitsamt ihrer nachbarschaftlichen Beziehungen würden sie direkt von der Straße in ein Stockwerk gehoben. Sagen wir, die Andrew Street wird der 21. Stock. Immer noch wohnte nun Frau Smith angrenzend an die Singhs, die wiederum den Folleys angrenzend wohnten. Die Pointe ist, dass die räumliche Anordnung wegen der Platzbeschränkung im Inneren des Towers nicht mehr wie auf der Straße nebeneinander verläuft. Die Straße wird nicht oder höchstens scheinbar wie in der Geschichte von Jorge Luis Borges 1:1 übertragen. Goldfinger wollte nämlich, dass das Äußere des Hochhauses völlig unverändert bleibt, die Wohnungen aber wie unsichtbare Metastrukturen darin eingefaltet werden. Im Grunde wollte er damit den Normalcode der Hochhausmaschine knacken.
Auf jeden Stockwerk befinden sich gleich nebeneinander drei Türen, dann ein Abstand, wieder drei Türen, dann wieder ein Abstand usw. Die Türen können so nahe beieinander liegen, weil nur eine Wohnung um eine ihrer Fluchtlinien gruppiert ist, und die anderen beiden Türen zu versteckten Hintertreppen hinauf oder hinunter führen (weswegen der Aufzug auch nur alle drei Stockwerke Halt machen muss). Die horizontalen Beziehungen der Straße, also gleichsam deren Logik, symbolisiert durch die drei nebeneinander liegenden Türen, wurde in eine unsichtbare, aber sehr eindrucksvolle und überraschende Vertikalanordnung übersetzt.
Nach diesem Plan wohnen nun nicht mehr dieselben Nachbarn Wand an Wand. Und genau das, muss ich gestehen, stellt zwischen den Menschen, die angrenzend wohnen oder – besser: – von denen man glaubt, sie wohnten angrenzend, eine eigentümliche Dynamik her. Gerade jene nämlich, die man durch die Wände hört, sind die, die man kaum je zu Gesicht bekommt.
So kann das Interieur die normale rasterartige Anlage des Gebäudes durch ein fluides Erlebnis im Inneren ausgleichen. Gut möglich, dass Goldfinger ganz idealistisch die Nachbarschaftsbeziehungen verändern und zugleich schlicht seinen eigenen „Straßenverlagerungsmythos“ brechen wollte. Manchmal habe ich den Eindruck, gewisse Bauwerke verengen sich in ihren Verhältnissen und Zugängen zu den Wohnungen, aber im Fall des Balfron Tower werden die (normalerweise mit Stellwänden getrennten) Wohnungstüren zu so etwas wie einem Vorhang, der die Teilhabe an der Öffnung des Gebäudeinneren erleichtert. Worauf ich hinaus will, ist, dass wir in unserer Vorstellung hinter den Türzugängen des Balfron Towers in jener Fluidität aufgehen sollen, die der Bruch mit dem Gewöhnlichen erzeugt. Das Gebäude wird damit zu einem Maßstab, anhand dessen man die Veränderungen erst ermessen kann, die Goldfinger an der sozialen Sitte vorgenommen hat. Und derselbe Wunsch, der Beweglichkeit zu huldigen, steht ja vielleicht auch hinter den hellblau gefliesten, swimmingpool-artigen Lichthöfen von Ricardo Bofills Walden 7 oder den Pool-Gemälden David Hockneys, denen man die Freude an gemeinsamen Erlebnissen so sehr anmerkt. Dass Hockney den Pool selbst als Hauptmotiv wählt, macht es zur schimmernden Metapher für menschliche Interaktion und gemeinschaftliche Freude. (Paul Knight)