Ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.
(Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 1974, 691 f.)
Es ist ein französisches Wort, das diesen Zustand der Fassungslosigkeit perfekt trifft, der angesichts des Undenkbaren, angesichts dessen, was über unsere Vorstellungskraft hinausgeht, schonungslos Besitz von uns ergreifen kann. Dieses Wort lautet sidération, Schockstarre. Wir könnten den Zustand der Schockstarre als den Moment bezeichnen, in dem es der Sprache nicht mehr gelingt, unseren Zustand zu artikulieren. Es gibt noch keine Worte, um den Taumel angesichts bestimmter Tragödien zu beschreiben. Das englische Äquivalent von sidération wäre das Wort shock, doch das hat nicht den polysemen Umfang des Wortes sidération.
Als die Pest im 14. Jahrhundert das mittelalterliche Europa getroffen hat, beschränkte sich das einzige bekannte Heilmittel auf die berühmte lateinische Redewendung "Cito, longe fugeas, tarde redeas" oder metonymisch durch das Akronym C.L.T. für "Cito, Longe, Tarde" ausgedrückt, was man mit "Fliehe schnell weit weg und kehre spät zurück" übersetzen kann.
An die Stelle der Redewendung "Cito, Longe, Tarde" ist heute eine andere Warnung getreten, die lauten könnte "Beschränke dich lange". Es gibt keine einzige Region auf der Welt mehr, die von Covid-19 verschont geblieben wäre, und so haben wir erlebt, wie die Welt erstarrte und das Wort Ausgangssperre in den täglichen Wortschatz Einzug gehalten hat. Radenko Milak hat sich von Anbeginn an für diese Ausgangssperre und ihre Auswirkungen interessiert und beispiellose Bilder einer zum Stillstand gezwungenen Welt geschaffen.
Diese Gruppe von Aquarellen ist das Ergebnis sorgfältiger, systematischer Untersuchungen durch die unmittelbare, konstante Flut von digitalisierter Information. Dem Beispiel der Serien historischer Erinnerung wie 365 – Image of Time oder auch University of Disaster folgend, dokumentiert und organisiert Radenko Milak mit dieser neuen Serie Sideratio das Ereignis ästhetisch. Werden wir beim Anblick dieser Bilder von einem Schwindelgefühl ergriffen, sind wir wirklich die Zeugen dieses Ereignisses? Es besteht eine fast fiktionale oder traumähnliche Dimension des Ereignisses, wobei jedes der vom Künstler ausgewählten Bilder ein Gefühl der Fremdartigkeit verstärkt. Wäre es nicht unser Alltag, der in unterschiedlichem Maß durch die Ausgangsbeschränkung auf den Kopf gestellt ist, dann könnten wir den Bericht von der Pandemie als eine Fiktion verstehen, die eines direkt einem kranken Gehirn entsprungenen Katastrophenfilms würdig ist. Wir wissen nur wenig über diese Pandemie, welche die Weltwirtschaft schonungslos gestoppt hat, außer dass sie - im Sinne Walter Benjamins verwendet - ein Symptom für den Fortschritt ist, nämlich ein Sturm.
Und so zögern einige nicht, Covid-19 als Krankheit des Anthropozäns zu bezeichnen. In der Diversität der hier präsentierten Werke zeichnet sich eine Geschichte ab. Radenko Milak zeigt uns ein gesellschaftliches Leben, das in seinen intimsten Aspekten auf den Kopf gestellt ist, völlig verlassene Stadtlandschaften, Kirchen und heilige Stätten, Krankenhäuser und Leichenhallen in Überzahl, geschlossene Kulturstätten, Flughäfen und Bahnhöfe, wo keine Abreise möglich ist. Und er zeigt die süß-bittere Absurdität eines Alltags, der in seinen nüchternsten Aspekten erschüttert ist. Mit dieser Geschichte durch Bilder wird unser Verständnis dessen, was uns umgibt, noch lebendiger, wir nehmen die Gewalt und den Zynismus der Welt wahr, den Fortbestand von Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Wir erkennen das Ausmaß der Maßlosigkeit, und wir sind besorgt. Und diese Besorgtheit muss im Mittelpunkt unseres Handelns stehen, um sich aus dem Sturm zu befreien.
(Christopher Yggdre, 2020, übersetzt von Eva Dewes)