Wir kennen das Gefühl beim Betrachten des Meereshorizonts, man fühlt sich fragmentiert. Der Makro-Massstab des Meeres schrumpft unsere Anwesenheit auf der Erde zu einer winzigen Sekunde. Also messen wir akribisch: Zeit im Verhältnis zu den Gesteinsschichten der Erde ist “geologische Zeit” und seit einem winzigen Bruchteil, einer geologischen Nano-Sekunde, nennen wir die Gegenwart „Anthropozän”- ein vom Menschen modifizierter Planet. Ein Planet, der vor etwa 400 Millionen Jahren den Pfeilschwanzkrebs hervorbrachte (engl.: Horseshoe Crab).
Schon sind wir mitten in Tue Greenforts sechster Einzelausstellung in der König Galerie und seiner ersten Schau in der ST Agnes Chapel. Unter dem Titel 400 Million Years zeigt Greenfort (*1973 in Holbaek, Dänemark) vier neue Werkgruppen, die sich mit den zentralen Themen seiner Arbeit befassen: Prozesse in der Natur, Diskurse der Ökologie, verschiedene Konzepte von Umwelt. Dabei fungiert der Pfeilschwanzkrebs als Leitmotiv, um den Fokus dieser Ausstellung auf die entscheidende Frage nach dem Verhältnis von menschlichem und nicht-menschlichem Handeln, zu lenken.
Weil seinem Leben auf festem Boden etwa 400 Millionen Jahre vorausgehen, nennen wir den Pfeilschwanzkrebs ein lebendes Fossil. Auch hier, auf dem Boden der Galerie, erleben wir ihn leblos versteinert und gleichzeitig beseelt. Jede einzelne Skulptur der neuen Serie Horseshoe Crabs (Beton, 35x35x15 cm, 2017) ist lebensgross und handgegossen aus einem Beton, der industrielle Flugasche enthält. Flugasche ist der Abfall, der bei der Verbrennung von fossilen Brennstoffen zur Energiegewinnung entsteht. Hier schon, wird die massgebliche Bedeutung des Mikro deutlich: es sind die Mikropartikel der Flugasche, die die Umwelt im Makrobereich schädigen. Greenforts Zugriff ist jedoch kein klar umrissen moralischer. Stattdessen weist er der Asche einen neuen, durchaus erstaunlichen, ästhetischen Nutzen zu. Greenforts kritische Methode wird deutlich wenn wir die, sich zu vermehren scheinenden Kreaturen, in der Ausstellung, auch als Verweis auf die Bedrohung ihres Paarungsgebietes lesen. Die enorm biodiversen, jedoch von den menschlichen maritimen Industrien modifizierten, Randzonen flacher Gewässer. Das blaue Blut des Pfeilschwanzkrebses findet auch in der Medizin seine Anwendung, wofür tausende von ihnen jedes Jahr ihr Leben lassen müssen.
Die Videoarbeit Horseshoe Crabs, Companion Species, YouTube Series I (HD video, 12:24 Min., 2013/2017) verbildlicht diese Widersprüche auf medien-reflexive Weise: Ausschliesslich aus YouTube Clips gewonnen, verweben sich Heimvideos vom Strandurlaub, wo man dem alienhaften Krebskörper mit genussvoller Angst und forschender Neugier begegnet, mit der wissenschaftlichen Dokumentation ihrer biochemischen Eigenschaften und deren Untersuchungsmethoden. Atmosphärische elektronische Musik und eine schauerliche, computerisierte Off-Stimme verstärken die technologische Dimension der bio-politischen Gemengelage dieser reichhaltigen Fallstudie. Zwischen “Companion Spezies” (Donna Haraway) und “Multi-Spezien-Intra-Aktion” (Karan Barad). Eine sezierte Körperschaft, vernichtet und gezüchtet, vom Ei-Stadium bis zum wissenschaftlich-industriellen Gespenst, ist der Pfelischwanzkrebs eine fossile Lebensform die in den Meeren spukt.
Ein weiteres lebendes Fossil ist der Fisch Tilapia (Tinte auf Reispapier, 50x69 cm, 2017) – weniger im streng wissenschaftlichen Sinn, als in der Form seiner künstlerischen Belebung. Genauer: als 1:1 Abdruck von in Tinte getauchten Fischkörpern auf einem Papier aus Reis. Während Tue Greenfort sich in seiner Arbeit oft mit Fischen im Allgemeinen befasst, kommt dem Tilapia ein besonderer Platz in seiner künstlerischen Praxis zu. Der Tilapia ist Bewohner eines langfristigen, sozial-skulpturalen Aquaponic Systems, ein mehr oder weniger autonomes Multi-Spezien-Gewächshaus, das Greenfort in einer Weddinger Autowerkstatt eingerichtet hat.
Für diese Ausstellung und ihre frischen Fischdrucke, eine ansonsten für die Dokumentation des Fischereiertrags verwendetet Technik, kommt nun eine neue Motivation hinzu. Greenforts Forschungsreise an den Viktoriasee in Tanzania. Spätestens seit Hubert Saupers dramatischer Dokumentation Darwins Alptraum (2004) über die Fischindustrie, hat der See eine zweifelhafte Berühmtheit, im ökologischen Diskurs, erlangt. Trotz seiner geologisch relativ jungen 400.000 Jahre, verfügt der Nam Lolwe See (sein nord-tanzanianischer Name) über eine, der Pfeilschwanzkrebs-Krise verwandten, Komplexität: Während einige Tilapia Arten dem See einheimisch sind, wurden andere in den 19050er Jahren vom Menschen eingeführt. Zuerst zu wissenschaftlichen, dann industriellen Zwecken, niemals jedoch verfügbar für Hungernde. Inzwischen haben die invasiven Raubfische die einheimischen Tilapia gänzlich ausgerottet, sowie fast alle anderen Fische des Sees. Ein katastrophales ökologisches Ungleichgewicht ist enstanden. Diese Dynamiken von Leben und Tod, werden in der schwarz-weiss gehaltenen Präsentation von Greenforts Fischdrucken deutlich. Es sind Erinnerungsdrucke von einem fast fossilisierten Fisch. Archivarische Gesten gefährdeter Geschöpfe. Forensischen Fingerabdrucken ähnlich, bezeugt ihr Schwermut die Verwandtschaft von Schönheit und Barbarei, Kolonialismus und organischer Ornamentierung.
Was verbirgt sich unter der Oberfläche von Symbiose? Was bewegt die Summe unserer Teilchen? Was misst das Gewicht von Sedimentation?
Eine einfache, wiedererkennbare, alltägliche Form: die Meereslandschaft. Die Reflexion von Licht auf Wasser. Das Oszillieren eines wandernden Energieaustauschs. Seascape (Glas, 80x90x15 cm, 2017) ist all das. Sie übermittelt Greenforts Denken und Schaffen auf kontrastreiche, lyrische Weise. Randvoll mit Metaphern, übersprudelnd vor Spezien, Lebensgemeinschaften, Wirtschaftsformen. Einfach durch den Betrachter selbst zu erfahren.
Tue Greenforts Ausstellung 400 Million Years, zeigt einen Bestandsaufnahme von Einzelproben, an einem bestimmten Punkt der Zeit. Sie verfolgt Versuche fingierter Klassifikation und des amateurhaften Sammelns. Die Arbeit verteilt Sichtbarkeiten neu, zwischen Eindringlingen und Ausgemerzten. Doch Sichtbarkeit allein ist keine Kunst. Hier setzte die Vorstelung ein und wir sind mittendrin in den Allianzen sich entwickelnder Wesen, in unerforschten Gefilden.
Tue Greenforts interdisziplinäre Arbeitsweise widmet sich Fragen des öffentlichen und des privaten Raums, Natur und Kultur. Greenfort formuliert künstlerisch eine vielschichtige Kritik der heute dominanten Wirtschaft und Wissenschaft. Ausgehend von den Dynamiken der Welt, entwickelt sich sein Werk entlang aktueller Fragen der Ökologie und ihrer Geschichte. Inklusive der Vorstellungen von Umwelt, sozialen Beziehungen sowie menschlicher und nicht-menschlicher Subjektivität. Tue Greenfort (*1973 in Holbaek / Dänemark) lebt und arbeitet in Berlin, wo ihn die König Galerie vertritt. Verschiedene seiner Arbeiten sind derzeit zu sehen in Einzelpräsentationen in DEN FRIE, Kopenhagen sowie dem Musikfestival in Roskilde und in den Gruppenausstellungen im Arken Museum of Modern Art, Ishøj, der Aarhus Triennale 2017, Aarhus und der TBA21, Wien. Als Teilnehmer der dOCUMENTA(13) in Kassel, ko-kuratierte Greenfort ein Archiv zur Multi-Spezien Ko-Evolution, The Worldly House. Vorherige umfassende Einzelausstellungen seiner Werke zeigten The Museum of Contemporary Art Oslo, Oslo (2016), König Galerie (2014), Sorø Kunstmuseum (2014), SculptureCenter, New York (2013), Berlinische Galerie (2012), South London Gallery (2011), Kunstverein Braunschweig (2008) und Secession, Vienna (2007). Greenfort war beteiligt an zahlreichen internationalen Gruppenausstellungen, z.B. Neues Museum, Nürnberg (2016), ZKM Karlsruhe, Karlsruhe (2015), Kunstmuseum Linz (2014), Gemeentemuseum, Den Haag (2013), Georg-Kolbe-Museum, Berlin (2012), Kunstverein Hannover (2011), Royal Academy of Arts, London (2009), Fondazione Morra Greco, Neapel (2008), Skulptur Projekte Münster (2007) und Witte de With, Rotterdam (2006). Von seinen bisherigen Publikationen ist Linear Deflection (2009, Walther König) die umfassendste.