Bei dem Projekt, das „Ein Film auf einer Seite“ heißt, werden unterschiedliche Ausdrucksformen miteinander verflochten – die Performance, die Zeichnung, die Malerei, die Fotografie, das Video.
Im Zentrum der Arbeit steht die Auseinandersetzung mit dem Thema Film. Das Wort „Kinematograph" (κίνησις kinema „Bewegung“ und γράφειν graphein „zeichnen“) stammt aus dem Griechischen und kann wörtlich als „Bewegungsaufzeichnung“ übersetzt werden. Ich für meinen Teil versuche das bewegte Bild eines Films zu fixieren. Dieser Arbeitsprozess bringt mich zurück zum Anfang der Kinematographie, zu den Bildern und Figuren lang vergangener Zeiten, die der damaligen Kunst und Kultur entsprungen sind. Gleichzeitig entdecke ich deutliche Parallelen zur heutigen Zeit, was man als ein alarmierendes Zeichen wahrnehmen könnte – der Erste Weltkrieg, Revolutionsbewegungen, Europa in den 20er, 30er, 40er Jahren, das Hochkommen des Nationalsozialismus und die Machtergreifungen der großen Diktatoren wie Stalin oder Hitler.
Hauptsächlich habe ich mit Stummfilmen experimentiert. Darunter sind Filme der Dadaisten, die Werke von Filmpionier Georges Melies, erste Shakespeare- Verfilmungen, Filme von Friedrich Wilhelm Murnau (z.B. „Faust“ und „Der letzte Mann“) oder Fritz Langs „Metropolis“. Manchmal griff ich aber auch auf Tonfilme zurück, darunter Charlie Chaplins „Der große Diktator“, Rosselinis „Rom, offene Stadt“, „Die Dreigroschenoper“ von Georg Wilhelm Pabst oder „King Kong und die weiße Frau“. Insgesamt waren es mehr als 70 Filme, mit denen ich gearbeitet habe.
Zunächst wird der Film auf ein weißes Blatt Papier oder eine Leinwand projiziert. Sobald er läuft, versuche ich, das was ich sehe in Echtzeit nachzuzeichnen. Ist der Film zu Ende, ist auch meine Zeichnung/mein Gemälde vollendet. Dabei ist es technisch unmöglich die sich bewegenden Elemente, wie die flimmernden Gesichter, Räume oder Landschaften festzuhalten – der Bleistift oder Pinsel schafft es in der kürze der Zeit nur einzelne Linien oder höchstens eine Silhouette aufs Papier zu bringen. Alles ist in einer permanenten Bewegung. Als Ergebnis bekommen wir ein abstraktes Bild. Jedes dieser Bilder ist die Kompression eines Films - aufeinander liegende Ebenen. Es ist das Fixieren der Sekunden-bruchteile eines Kinofilms auf einer Bildfläche. Wenn ich bestimmte Schlüsselwörter hervorheben möchte, projiziere ich den Film bis zu drei Mal auf die Leinwand.
Merkwürdig wird dabei folgendes: stilistisch führen uns die Endergebnisse dieser Aktion unabsichtlich zu den Zeiten des Abstraktionismus und zu dessen späteren Modifikationen, einschließlich der Action Paintings.
Als neues und mächtiges „Medium“ veränderte der Film vor mehr als hundert Jahren an der Schwelle zum neuen Jahrhundert schnell das Empfinden und das Bewusstsein der Menschen. Es ist vergleichbar mit dem Internet heute. Aber das Internet erschafft nicht nur, sondern vernichtet auch permanent die vielen Milliarden Fantasien, Ideen oder Kommentare, die in die virtuelle Welt geschickt werden. In unserem Bewusstsein fügen sie sich zu schwer zu entziffernden Flecken zusammen (vergleichbar mit den Tintenflecken des Rorschachtests).
Vor Aktionsbeginn versucht der Autor (Vadim Zakharov) seine Identität zu verändern und ein neues, für ihn unbekanntes Selbstbild zu erschaffen. Er improvisiert, indem er an seinem Körper seltsame Accessoires und Gegenstände befestigt. Der erschaffene „Unbekannte“ ist auch derjenige, der auf dem Blatt Papier/der Leinwand zeichnet oder malt. Die Aktion des „Unbekannten“ wird jedes Mal von einer Videokamera aufgezeichnet.
Unsere zeitgenössische Gesellschaft erzeugt gewaltige Mengen von Bildern und Texten, die wie Viren oder ähnlich einer Infektion, permanent in unsere Körper und unser Bewusstsein eindringen und sowohl den Konsumenten als auch den Autor vernichten. Indem ich mir seltsame Kleidung anziehe, die absolut nichts mit dem Film zu tun hat, verliere ich automatisch meine Identifikation mit mir selbst (um eine neue Gestalt anzunehmen braucht man Zeit). Somit erschaffe ich eine Art „Pause“, in der der Künstler den eigenen Schablonen und Verhaltensweisen entfliehen kann. Vielleicht ist gerade das für den Künstler eine kleine Chance sich in der Zukunft selbst zu erhalten.
Wenn die Zeichnung vollendet ist, stelle ich eine Kamera auf und projiziere den Film zum letzten Mal auf das Bild. Dabei drücke ich mehrmals auf den Auslöser, ohne dabei in den Sucher zu schauen. Wenn man einen Schwarzweißfilm mit einer normalen Kameraeinstellung fotografiert, entstehen bei jedem Film unerwartete Effekte. Jede Fotoserie bekommt so ihre eigenen seltsamen Farbnuancen, die scheinbar durch eine technischen Fehler hervorgerufen werden. Zum wiederholten Mal wird der Künstler eliminiert, diesmal durch einen mechanischen Prozess, bei dem er nur auf den Auslöser drückt und keinen Einfluss auf die Farbgebung der Bilder hat. Die entstandenen Fotografien werden aus dem Zeitalter des projizierten Films herausgerissen und spiegeln nun unsere Realität wieder, indem sie manchmal an ein Graffiti und manchmal an eine 3D-Darstellung erinnern.
Die Reihe „Ein Film auf einer Seite“ hat sich aus meiner früheren Serie „Literatur auf einer Seite“ entwickelt. Diese Serie beinhaltet Saint-Exuperys „Der Kleine Prinz“, Dantes „Die Hölle“ oder auch „Einhundert russische Märchen“. Das Prinzip ist ähnlich. Zunächst wird jede einzelne Seite des ausgewählten Buches gescannt und anschließend in richtiger Reihenfolge von einem Laserdrucker auf ein und dasselbe goldene Blatt Papier gedruckt. Nach jeder Seite nehme ich das bedruckte goldene Blatt und lege es erneut in den Drucker, so lange bis auch die letzte Seite des Buches darauf gedruckt wurde. Auf diese Weise verwandelt sich der Text in ein unlesbares Bild – eine Art „Literaturikone“. Da es keine Tinte ist, sondern ein Toner - ein staubähnliches Pulver, entsteht auf dem Papier eine Art Relief. Es ist ein ziemlich kniffliger Prozess, denn durch die vielen Tonerschichten, die sich nur in der Mitte des Blattes bilden und somit den Rand aussparen, beginnt der Drucker ab einem bestimmten Zeitpunkt das Papier zu zerknittert und zu reißen.
Ebenfalls mit dieser Methode ist meine Serie „Diktatoren auf einer Seite“ entstanden: einhundert verschiedene Porträts von Hitler, einhundert von Stalin und einhundert Porträts von Mao wurden auf dieselbe Art und Weise jeweils auf eine Seite gedruckt. Dabei handelt es sich um einen Versuch aus den vielen Bildern, die unsere Kultur und Geschichte hervorgebracht hat, ein Gesamtbild zu erschaffen. Wir Menschen scheinen nichts lernen zu wollen. Es stellt sich heraus, dass sich alles verklebt und nichts zum Verstehen der nächsten Schritte führt. Alles verwandelt sich in Flecken.