Mit Detroit, der Motor City im Bundesstaat Michigan, verbinden wir die Kehrseite des amerikanischen Traumes. Durch den ökonomischen und politischen Kollaps einer ganzen Industriebranche wurde das urbane und gewachsene Leben fast gänzlich zum Stillstand gebracht. Aber diese Stadt zeigt gerade auch vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Geschehnisse, warum dieses Land unter dem Slogan Make America great again zwischen Kapitalismus, Populismus und Rassismus eine so radikale Spaltung der Gesellschaft erfahren hat.
Das urbane Klima in Detroit ist wesentlich geprägt durch den gänzlichen Verlust öffentlicher Systeme und eine radikale soziale Umschichtung, die ihr Echo in den Industriebrachen und devastierten Wohnvierteln findet. Diese Stimmung greift Peter Senoner in seiner Ausstellung Detroitanic auf und übersetzt sie in eine raumgreifende Architektur, welche sich in einem spannungsgeladenen Balanceakt mit seinen Zeichnungen und Skulpturen befindet.
Im Rahmen eines mehrmonatigen Arbeitsaufenthalts im Sommer 2016 bewegte sich Senoner hauptsächlich mit dem Fahrrad durch die Stadt Detroit. Einzig mit den minimalsten Mitteln ausgerüstet wie Papier, Bleistift und Fotoapparat, welche er in seinem Rucksack verstaute, entwickelte er täglich zwischen 5 Uhr morgens und 12 Uhr mittags Open Field Drawings, indem er Fotografien und Zeichnungen in den Industrieruinen anfertigte oder diese dort neu arrangierte. So entstand eine Serie von Arbeiten, die in ihrer Intensität und zeichnerischen Dichte beeindruckende Zeugen eines intensiven Momentes zwischen sozialer Bedrohung und kreativem Tun darstellen.
Neben dieser autonomen Serie von Werken aus Detroit zeigt die Ausstellung vor allem auch großformatige Aktzeichnungen, die in den Monaten nach Detroit entstanden und die Spuren der Erfahrungen dieser Stadt widerspiegeln. Peter Senoner kehrt hier zurück zum Motiv des menschlichen Körpers, den er nun nach dem lebenden Modell zeichnet, so als wolle er seine seit beinahe 20 Jahren durchgeführte zeichnerische Recherche noch einmal von vorne beginnen, um Formen, Bewegungen und Physiognomien noch grundlegender oder vielleicht wieder neu zu erkennen. Die Arbeiten sind geprägt von einer großen Geschwindigkeit des zeichnerischen Aktes und von einer intensiven Dichte und Expressivität, welche in der Ausführung der Gesichter und der Hände kulminiert. So als wolle er sich in die Seele der Körper hineingraben, arbeitet Senoner wie ein Bildhauer durch vielfaches Überlagern und wieder Abtragen und Abschleifen von bis zu 200 Farbschichten mit Meißel und Schleifpapier. Das Antlitz des Aktes tritt in seiner ganzen Verletzlichkeit dem Betrachter gegenüber, wirkt wie unter einem Röntgenblick freigestellt auf den durch Bearbeitungsspuren gezeichneten weißen Bildgrund.
Als Gegenentwurf zu den massiven raumgestaltenden Einbauten der Schalungswände im oberen Ausstellungsraum, präsentieren sich die bildhauerischen Werke in einem offenen Ambiente, und haben ihrerseits raumgestaltende Funktion. Eine Reihe von Arbeiten kleineren Formats sind im Raum verteilt oder hängen von der Decke. Senoners Zugang zur Bildhauerei zeigt sich hier erstmals in seiner großen Bandbreite an unterschiedlichen Zugängen. Klassische Skulpturen verbinden sich zu Ensembles mit gefundenen Objekten, sogenannten Objets trouvees, so die in Bronze gegossene Kartonschachtel, welche der in Holzbildhauer-Technik gefertigten Figur Lux als Sockel dient. Ein Ready Made im zeitgenössischen Sinne ist auch ein kleines in Bronze gegossenes Objekt, das sich aus einem gefundenen Ast und einem vom Künstler rudimentär aus Ton geformten Figürchen zusammensetzt. Die Skulptur Ona hingegen ist als high-end Print in digitaler Technik auf Basis zweier handgeschnitzter Objekte entstanden.
All diese Arbeiten unterlaufen die bei Peter Senoner lange durchexerzierte Suche nach dem klassischen Schönheitsideal in der zeitgenössischen Darstellung des Körperlichen, und thematisieren in bestechender Form eine gänzlich neue Recherche zur künstlerischen Umsetzung einer conditio humana angesichts des gesellschaftlichen Zerfalls am Beispiel Detroit.
Peter Senoner wurde 1970 in Bozen, Italien geboren, wo er lebt und arbeitet. Meisterschüler der Akademie der Bildenden Künste in München 2001. Arbeitsaufenthalte in New York (1997 – 2000), in Tokyo (2002 und 2004), in Wien (2006), in Berlin (2012) und in Detroit (2016). Lehrt seit 2006 am Institut für experimentelle Architektur/Studio 3 an der Universität Innsbruck.
Seit 2000 stellt Peter Senoner in internationalen Ausstellungen aus. In der Kunsthalle Bremerhaven (2016), im Ferdinandeum Innsbruck (2014) und im Lentos in Linz (2013), im project space Nationalmuseum Berlin (2012), und im Museion Bozen (2011). Ausstellung zum Agenone Fabbri Preis der Stiftung VAF in der Stadtgalerie Kiel und im Palazzo Ziino, Palermo (2010), in der Landesgalerie Linz (2008), in der Ursula-Blickle-Stiftung, Kraichtal und in der ar/ge kunst Bozen (2006), in der Kunsthalle Wien (2005), im project space der Kunsthalle Wien (2003), in der Sammlung Falckenberg Hamburg (2002), im Haus der Kunst München und in ECA Edinburgh (2000).
Peter Senoner erhielt eine Reihe von Preisen und Stipendien, so z.B. ein Arbeitsstipendium der Stiftung Kunstfonds in Bonn, den Hilde-Goldschmidt-Förderpreis, den Bayerischen Staatsförderpreis, den AMI Award Lines on Paper, Linz.
Im öffentlichen Raum realisierte er Arbeiten für den Kreisverkehr Autobahn Klausen (2009), das Klinikum rechts der Isar, München (2010), das Pharmazie Museum Brixen (2006). Aktuell steht er auf der Short-List für die künstlerische Gestaltung der Stadtbibliothek in Innsbruck. Der Künstler ist präsent in wichtigen privaten und öffentlichen Sammlungen mit Zeichnungen und Skulpturen für den Außenraum.
Karin Pernegger und Sabine Gamper