Lange Zeit war Korsika bekannt für Maffiakriege und Kriminalität. Zu unrecht – die Insel ist ein Juwel mit einer zauberhaften Natur, freundlichen Bewohnern und einer Küche, die noch heute Zeuge der bewegten Geschichte der Insel ist.
Grosse und kleine, gerade und krumme Saucisses hängen von Metallstangen an Schnüren wie ein Vorhang gegenüber der Theke. Die Wände sind mit braunem Holz verkleidet, man scheint direkt in die 70er Jahre zurückversetzt. Babette nimmt ein Stück Saucisse in ihre von Arbeit gezeichneten Hände und schneidet zur Degustation eine grosszügige Scheibe ab. La Saucisse oder Salami, wie sie in korsisch genannt wird: eine salzige, leicht pfeffrige, aromatische Trockenwurst aus dem mageren Fleisch der halbwilden Schweine, die sich in Wäldern mit jahrhundertealten Kastanienbäumen tummeln und sich zu einem Grossteil von Eicheln ernähren. Gerne wird Saucisse und Prisuttu (Rohschinken) mit Cornichons, Butter und Brot als Vorspeise serviert und symbolisiert nicht nur die Vereinigung der Einflüsse der französischen und italienischen Küche auf der „Île de Beauté“, sondern zeigt auch die Wichtigkeit der *Cuisine de la Terre, der Küche der Erde.
La Cuisine de la Terre eines eigenständigen Volks
Korsika, die kleine Insel im Mittelmeer mit gerade gut 300'000 Einwohnern, umgeben vom Meer, zelebriert in seiner traditionellen Küche die *Cuisine de la Terre. Auf den ersten Blick scheint dies absurd, ist die Insel doch vom Meer umgeben!
Die Geschichte der Insel ist geprägt von Invasionen verschiedener Mächte, welche die Inselbewohner ins Landesinnere verdrängten. In den von dichtem Wald überwachsenen Hügeln und Bergen haben sich die kulinarischen Traditionen Korsikas entwickeln können. Im Grunde ist die korsische Küche eine arme Leute Küche, die mit dem Notwendigsten ganze Familien ernähren konnte.
Die korsische Befreiungsfront legte sich in den 70er Jahren heftig gegen die französische Regierung an, als diese grosse Landstücke und Geld an die sogenannten Schwarzfüsse (Pieds noirs), die aus dem Algerienkrieg zurückkehrten, verteilen wollten. Dramatische Ereignisse folgten, doch trotz ihrer Brutalität und Grausamkeit hatten sie für die Insel einen positiven Effekt: sie hielten den Massentourismus fern. So konnte die Küste der Insel ihren ursprünglichen Charme bewahren. Erst mit dem kürzlich aufkommenden Tourismus kamen Meeresorte wie Bonifacio oder Porto Vecchio in Mode und auch Fischgerichte wurden zu typisch korsischen Gerichten erkoren.
Nicht nur Kastanien und Schwein
Die Flora der Insel ist enorm reich – sei es die korsische Macchia mit Wacholder, Myrte, Immortelle und anderen aromatischen Büschen, oder die Kaktusfeigen, die entlang der Küsten wachsen – sie geben der Insel ihren ganz eigenen unverkennbaren und verzaubernden Duft, der vom Meer schon von Weitem wahrnehmbar ist. Ein weiteres Gewächs, der Kastanienbaum, ist Symbol der Insel und wird „Arbre à pain“ genannt, da er lange Zeit Überlebensgrundlage der in das Landesinnere verdrängten Bewohner war. Heute wird aus Kastanienmehl nicht mehr das überlebenswichtige Brot, sondern schmackhafte Kekse oder Kuchen hergestellt.
Eine der prägendsten Invasionen war jene der Italiener. In der korsischen Sprache, der Architektur der Hafenstädte Ajaccio und Bastia, aber auch in der Kulinarik kommen die italienischen Einflüsse zum Ausdruck. Pasta ist heute aus der korsischen Küche nicht wegzudenken. Seien es die Pâtes à la langouste oder Wildschwein Lasagne - Pasta findet man am Meer und im Landesinneren. Eines der typischsten Gerichte überhaupt sind die Cannelloni al Brocciu: lange Röhren aus frischem Pastateig, gefüllt mit Mangold und Brocciu.
Brocciu wird nicht nur für dieses Rezept verwendet, er ist ein Allrounder der korsischen Küche: mit Gemüse in Teigtaschen gefüllt zu Bastelli gebacken - in Brandteig zu süssen Fritelle al Brocciu, die an keiner Hochzeit fehlen dürfen, ausfrittiert - mit Zucker, Ei und Zitronenzeste zum korsischen Cheesecake Imbrucciata gebacken oder pur am Ende eines Essens eventuell mit etwas Honig beträufelt genossen - Brocciu passt immer.
Brocciu ist das Nebenprodukt der Ziegen – und Schafkäseproduktion, für die Korsika so bekannt ist. Die bei der Produktion von Käse entstehende Molke wird mit Salz erwärmt und nahe dem Siedepunkt gekocht, bis sich die festen Bestandteile aus Proteinen koagulieren. Brocciu ist der italienischen Ricotta sehr ähnlich und wird im Herbst und Winter (Zeit der Produktion) frisch und durch das Jahr unter Salz konserviert gegessen. Brocciu wird oft „Käse von Korsika“ genannt, obwohl er genau betrachtet nicht Käse genannt werden dürfte, da er keine Milch, sondern nur Molke enthält.
Ziegen- und Schafkäse wird gerne mit süsser Feigenkonfitüre oder den aromatischen Honigen der Insel genossen. Der Honig vereint das Aroma des Maquis in einem Glas bernsteinfarbenen Goldes. Das Porcu nustrale, das halbwilde Schwein, wird nicht nur zu Salami oder Prisuttu verarbeitet. Korsika ist heute für Charcuterie sehr bekannt, dazu gehören auch Coppa oder *Lonzu. Typisch sind auch die *Figatelli, dünne dunkle Würstchen aus Schweineleber. Leider wird für die Charcuterie heute nur noch selten das Porcu nustrale verarbeitet, sondern Schweinefleisch aus der Bretagne oder aus Spanien importiert. Auch Wildschwein wird oft zubereitet, in herzhaften Eintöpfen geschmort oder zu Pastasaucen verarbeitet.
Ein Glas Wein darf nicht fehlen
Begleitet werden die Gerichte von den vorzüglichen Weinen der Insel. Der Weinanbau wurde von den Griechen sechs Jahrhunderte vor Christus auf der Insel eingeführt. Die Römer haben die Kultur des Weins fortgeführt und noch niemand ahnte, dass der Wein auf Korsika eine bewegte Geschichte vor sich hat.
Zwischen 1788 und 1896 erlebt der korsische Weinbau eine spektakuläre Entwicklung mit einer Verdopplung der Fläche des Rebenanbaus. Der Export von Wein nach Paris wurde zu einem wichtigen Wirtschaftszweig. Durch die Reblaus Phylloxéra wurden alle Reben zerstört und die Weinproduktion vernichtet - die Insel litt schwer. Zu Beginn der 1960-er Jahre wurden 17'000 Repatriierte aus Algerien in Korsika stationiert und der Weinbau wurde wieder aufgenommen, jedoch in fast industriellem Ausmass: es wurden Rebsorten mit hohem Ertrag gewählt, die damals auf nahezu 14'000 Hektaren Land gepflanzt wurden. Nach und nach hat der Korsische Wein den Platz des Algerischen Tafelweins eingenommen und wurde so zu einem billigen und qualitativ mangelhaftem Tischwein.
In dieser Zeit hat sich das Konsumverhalten der Inselbewohner jedoch in eine andere Richtung entwickelt und so brach der Verkauf von korsischem Tischwein ab 1970 ein. In nur 20 Jahren verlor der korsische Weinbau zwei Drittel der Rebfläche. Die Gesamtfläche reduzierte sich von einst 32'000 ha auf nur noch knapp 10'000 ha (1990) und fehlte der lokalen Wirtschaft sehr. Dank einer neuen Generation qualitätsbewusster und mutiger Winzer wurde die Weinherstellung auf Korsika neu stark auf die Qualität ausgerichtet. Autochthone Rebsorten, ideale klimatische Bedingungen und eine natürliche Vielfalt der Bodenbeschaffenheiten bringen heute Qualitätsweine hervor, die auch auf dem Festland sehr beliebt sind. Schon 1975 wurden auf Korsika 9 AOC (Appellation d’Origine Contrôlée) definiert, heute sind die Weine dieser AOCs Qualitätsweine, die in Präzision und Stilistik gewonnen haben und sich nicht mehr vor den grossen Franzosen des Kontinents verstecken müssen, sondern ihren sichern Platz in der Welt der französischen Weine errungen und verdient haben.
Drang nach Unabhängigkeit
Die Invasionen haben nicht nur die Kulinarik geprägt, auch haben sie der Insel und ihren stolzen Bewohnern ein eigenes Identitätsgefühl verliehen. Korsen sind zwar auf dem Papier Franzosen, doch sie verstehen sich klar als eigenständige Nation. So wird die korsische Sprache mit viel Hingabe gepflegt und kultiviert. Dieses starke Identitätsgefühl, dieser Drang nach Unabhängigkeit, kommt in der Paghjella, dem mehrstimmigen korsischen A Capella Gesang, am schönsten zum Ausdruck. Mit ihrer Harmonie und den Dissonanzen ist die Paghjella die Seele der Insel und bring die sanfte Rauheit des Mittelmeerjuwels berührend zum Ausdruck.