"blume aus zement"

still entgrenzt das samenkorn
schalenholz durchbricht
die form
sich langsam öffnend
unbemerkt
lichtvergoldet
reine lebenslust
im kern bestärkt
und stahlbeton aus glas
schwebend leicht
in wehen liegt
bis himmelsduft
geburt umweht
von poesie umringt
durch sphärenexplosion
und farbe
ein quäntchen jener ewigkeit abringt
halt deinen atem an und lausche
bis aller lärm der stadt
leis im blütenstaub ertrinkt

Katrin Wegener

Der Akt des Festhaltens, bedingt durch den Vorgang des Fotografierens, der mit dem Öffnen und Schließen der Blende und dem Einschreiben der Lichtinformation auf einem Träger einhergeht, gleicht dem Herausschneiden einer Singularität aus dem Zeitenfluss. Jegliche Veränderung verfällt in die Starre des Augenblicks. Diesem Zustand inne wohnt die Reglosigkeit. Kein Weg mehr wird zurück gelegt und die Zeit steht still. Und dennoch ist Bewegung im Spiel!

Es ist ganz einfach zu erklären: In den Kompositionen bzw. raffinierten Fotomontagen des jungen Mailänder Künstlers Francesco Vitali polarisieren sich die Begrifflichkeiten wie Realität und Utopie, Natürlichkeit und Künstlichkeit, Komplexität und Detail, Ordnung und Chaos sowie Stillstand und Bewegung. Das implizierte Stop-and-Go-Prinzip, das unsere Gedanken oszillieren lässt, führt dazu, dass wir fasziniert hinsehen und die gedruckten Manipulationsergebnisse des optischen Systems, die sich auch als Resultat fototechnischer Gestaltungsmöglichkeiten bezeichnen lassen, als Kunstwerke begreifen.

Schwerelos schweben die architektonischen Blüten im Raum. Sie steigen empor, verharren oder sind im Begriff sich zu öffnen. In brillanter Auflösung, mitunter dreidimensional, sind die unzweifelhaft poetischen Gebilde, die Blumen aus Zement, dabei, sich unmerklich zu entfalten ebenso wie es in der Pflanzenwelt geschieht. Obgleich wir um das Wissen darum verfügen, versagt das menschliche Auge dort, wo ein slow motion process im Gange ist. Dennoch schaut der aufmerksame Betrachter zu und bemerkt, dass er Zeuge einer Geburt ist. Er kann, wenn er bereit ist, ein lebendiges Wesen beobachten, das sich im Entstehen und Wandeln befindet, weil es dem bescheidenen, sehr höflichen Fotografen gelingt, jene Energie, die eine Transformation benötigt, um den Wechsel von einem Zustand in einen anderen zu bewältigen, in seinen Kunstwerken sichtbar zu machen und in einer Art film still zu speichern.

Von Beginn an ist die Stadt, La città, Francesco Vitalis Thema. Evident ist, dass sie nicht nur einen physischen Ort für den Künstler darstellt, sondern auch „einen Ort der Seele, intim und tief“, wie er sagt. „Jede Stadt besitzt ihre eigene Identität. Sie besteht aus Menschen, aber auch Erfahrungen, Farben, Gerüchen“ (1)– aus einer Vielzahl von Einzelteilen, die das einzigartige Gesamte bestimmen. Mit der vorliegenden Werksreihe) hat Vitali begonnen, sich dem Phänomen auf feinsinnige Art und Weise zu nähern und der Großstadt eine zweite Chance zu geben. Dabei beweist er seine fabelhafte Fähigkeit, Dinge in Szene zu setzten, die er u.a. als Lichttechniker in der Mailänder Scala und als Filmregisseur erlernt hat. Inspiriert von den Unsichtbaren Städten Italo Calvinos, der sich selbst dazu einmal in einem Interview mit der New York Times wie folgt äußerte: „Ich glaube, ich habe so etwas wie ein letztes Liebesgedicht an die Stadt geschrieben, in einem Moment, in dem es immer schwieriger wurde, sie als Stadt zu erleben.“(2), werden Vitalis eigene Großstadterfahrungen, die er unter anderem hautnah während seines 2jährigen San-Francisco-Aufenthaltes und einer späteren Reise nach New York sammeln konnte, Anlass und Sujet seiner künstlerischen Auseinandersetzung.
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„Ein eigenartiges Gefühl plötzlicher Enge und Unnatürlichkeit überfiel mich, während ich zwischen all den Wolkenkratzern in New York herumlief. Diese fremde Vertikalität mit ihren diversen Bedeutungen… Mir kamen die ägyptischen Pyramiden und die spätgotischen Kirchenbauten in den Sinn und ihre religiöse Wertigkeit gemischt mit dem Anspruch absoluter maskuliner Macht. Alles wandelte sich in Utopie, in die Utopie der idealen, vertikalen Stadt, um Lebensraum zurückzugewinnen. Daraufhin habe ich beschlossen, diese Schwere und Last der Künstlichkeit in etwas Leichteres, Natürlicheres umzuformen. In meiner Vorstellung avancierte das Bild von einer Schneeflocke als ein natürliches und gleichzeitig komplexes geometrisches Gebilde zum Bauplan meiner inneren Städte. Die Idee der Multiplikation von Fraktalen erschien mir einfach geeignet und sehr aussagekräftig. Die immanente Symmetrie gefiel mir.“ _(3)

Kaleidoskopisch fügt der Künstler demzufolge einzelne Architekturelemente der modernen Gesellschaft zu neuen Bildeinheiten zusammen. Details aus Stahl, Beton und Glas als Zeugnisse menschlicher Existenz sind die Stoffe aus denen Francesco Vitali neue Welten baut, die jedoch in der Konsequenz den Menschen nicht mehr benötigen, um zu bestehen. In völliger Abwesenheit ihrer Bewohner entwickeln jene neugeborenen Stadtwesen eine symptomatische Eigendynamik, ihre persönliche Strategie des Seins und Überlebens. Trotz organischen Charakters wird die Komponente des Verfalls in Vitalis Arbeiten visuell komplett ausgeblendet. Ihm geht es nicht darum, einen vollständigen Lebensprozess widerzugeben oder nachzuvollziehen, nein, im Gegenteil, es geht um den Augenblick kurz nach der Schöpfung, dem Zeitfenster des Werdens, des ewigen Erblühens, vollständig verortet in der vierten Dimension und tief verwurzelt in sich selbst. Religiös anmutig, rein und voller Hoffnung zeigen sich daher die menschenlosen urbanen Konstrukte, wunderbar staub- und lärmentleert, sodass man tatsächlich meinen möge, eine leise Sinfonie ertöne…

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(1) Francesco Vitali aus einem Interview mit Katrin Wegener vom 20.06.2012
(2) Italo Calvino zitiert nach http://de.wikipedia.org/wiki/Die\_unsichtbaren\_Städte; 12:55, 22.11.2012
(3) Francesco Vitali aus einem Interview mit Katrin Wegener vom 20.06.2012