Die Werke von Precious Okoyomon bewegen sich zwischen Kunst, Poesie und Performance. Sie setzen sich mit Identität, Kolonialgeschichte, Spiritualität und der Beziehung der Menschen zu Dingen und der lebendigen Umwelt auseinander. Dabei verbinden sich intime persönliche Fragen mit politischen und gesellschaftlichen Themen.
Bereits vor der Pandemie wurde Okoyomon eingeladen – als jüngste-r Künstler-in in der Geschichte des Kunsthaus Bregenz, damals erst 27 Jahre alt. Einem breiten Publikum wurde Okoyomon durch Installationen bekannt, die organische Materialien wie Erde, Pflanzen und Tiere einbeziehen. Bei der Biennale in Venedig 2022 verwandelte Okoyomon eine Halle der Arsenale in ein üppiges, wucherndes Ökosystem. Ausladende Skulpturen, dicht wachsende Schlingpflanzen, geschwungene Pfade und kleine Wasserläufe in tropischer Atmosphäre schufen einen Erlebnisraum, der Prozesse der Natur mit afrofuturistischen Visionen verband – und zugleich die Migrationsgeschichte der Pflanzen sowie deren Verdrängung thematisierte.
Für das Kunsthaus Bregenz wurden mehrere neue Arbeiten entwickelt, die unterschiedliche Themen untersuchen. Im Erdgeschoss befinden sich zwei Büros, die an die psychoanalytische Praxis Carl Gustav Jungs erinnern. Möbel aus der Zeit um 1900 schaffen eine Atmosphäre, die zugleich vertraut und sachlich wirkt. Existential detectives in verzierten Laborkitteln treten mit den Besucherinnen in Dialog und stellen Fragen zu Träumen, Erinnerungen und verborgenen Gefühlen. Fragebögen und Aquarellfarben laden Besucherinnen ein, mit ihren Bekenntnissen still zum Kunstwerk beizutragen. In einem Regal stehen Bücher zu Themen wie Liebe, Kochen, Philosophie und arabischer Poesie, aber auch Werke von Édouard Glissant, der in seiner Arbeit auf die schöpferischen Wechselwirkungen zwischen den Kulturen hinweist. Das Muster der Tapete zeigt Zeichnungen von Precious Okoyomon. Die hybriden Figuren mit ihren großen Köpfen, puppenhaften Körpern und flammenden Augen wirken sowohl verträumt als auch dämonisch. Sie regen dazu an, in die Tiefen der eigenen Psyche einzutauchen.
Die Stiegenhäuser des Kunsthaus Bregenz wurden für die Ausstellung von Precious Okoyomon verdunkelt. Eine zusätzlich eingezogene Decke verengt den Gang nach oben und schafft ein neues, erstickendes Raumgefühl.
Im ersten Obergeschoss hängen Plüschtiere an Schlingen von der Decke. Aus gebrauchten Kuscheltieren gefertigt und mit echten Federn versehen wirken sie wie Engel, kindliche, verspielte Wesen, die ein zerstörerisches Schicksal ereilt hat. Wie häufig in Okoyomons Werk geht es um Träume und Hybridität, Zerbrechlichkeit und Zuneigung, Sorge und Schmerz. Kuscheltiere beschützen Kinder, sie sind Gefährt-innen und Freund*innen, spenden Trost und dienen als Projektionsfläche kindlicher Fantasien.
Ein riesiger Teddybär im zweiten Obergeschoss liegt vergessen am Rand eines plüschigen rosa Teppichs. Seine tropfenförmigen Augen, die Herzen an den Pfoten und sein bekümmerter Blick regen dazu an, Momente der Selbstvergessenheit und Tagträume zu erleben. Die Installation wird begleitet von Musik der Soundkünstlerin Takiaya Reed, deren sphärische Klänge tranceartige Zustände fördern und den Übergang in die Welt der Wachträume begleiten – in jenen schwebenden Zustand zwischen Wachen und Schlaf, in dem sich die Gedanken auflösen und lebhafte innere Bilder entstehen.
Im obersten Geschoss des Kunsthaus Bregenz finden sich die Besucher-innen in einem abgeschlossenen Garten wieder. Neben verpuppten Raupen, die sich im Prozess der Metamorphose befinden, schwirren bereits geschlüpfte Schmetterlinge durch die Luft. Außerhalb des feuchtwarmen Habitats flimmert ein Film, der einen Flug über die Vorstädte in Okoyomons Heimatstaat Ohio zeigt. Er wurde für die Ausstellung im Kunsthaus Bregenz produziert, Okoyomon selbst steuert das Flugzeug und ruft laut eigene Gedichte in den Himmel. Die Bilder vermitteln ein Gefühl von Grenzenlosigkeit und Freiheit. Kennzeichnend ist die Vorstellung eines Ichs, das sowohl Dinge als auch das Leben in der Welt als spirituell angereicherte Quelle der Inspiration begreift. Die Besucher-innen sind gezwungen, hinter dem Netz zu bleiben – bei den Schmetterlingen.
Neben raumgreifenden Installationen hat sich Okoyomon durch Gedichte einen Namen gemacht, die oft in Performances eingebunden sind. Im zweiten Lyrikband But did you die?, der 2024 veröffentlicht wurde, versucht Okoyomon, sich den Kräften struktureller Gewalt, die uns umgeben, mit Lebendigkeit und Unfug zu widersetzen. Die Gedichte sind zart, ungeschönt und naiv – ebenso intim wie unbehaglich.
Precious Okoyomon (g. 1993, London) ist eine nigerianisch-amerikanischer Dichterin und Künstlerin. Okoyomon lebt und arbeitet in Brooklyn, New York. Einzelausstellungen wurden 2024 in der Fundación Sandretto Re Rebaudengo in Madrid ausgerichtet, 2021 im Aspen Art Museum und im Performance Space New York, 2020 im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt und 2018 im Luma Westbau in Zürich. 2024 nahm Okoyomon an der 60. Biennale di Venezia teil, auf der sie den Nigerianischen Pavillon bespielte, sowie 2023 an der 11. Sequences Biennial in Reykjavík und der Thailand Biennale in Chiang Rai, 2022 an der 59. Biennale di Venezia und am Okayama Art Summit, 2021 am 58. October Salon der Belgrad Biennale und 2018 an der 13. Baltic Triennial in Tallinn. Darüber hinaus war Okoyomon 2024 an Gruppenausstellungen in der Fondation Beyeler in Basel, 2022 im LUMA Arles und 2021 im Palais de Tokyo in Paris beteiligt. 2019 realisierte Okoyomon Performances in den Serpentine Galleries und dem Institute of Contemporary Arts in London. Okoyomon erhielt 2021 den Frieze Artist Award sowie den Chanel Next Prize. Im September 2024 erschien Okoyomons Lyrikband But did you die?.