Mit Konzepte des all-over präsentiert das Museum Haus Konstruktiv eine fulminante Gruppenschau, die die Verbindung von Farben, Formen, Licht und Architektur feiert. Sie ist die letzte Ausstellung im ewz-Unterwerk Selnau, bevor das Museum im Frühjahr 2025 ins Löwenbräukunst-Areal umzieht, und sie ist eine Hommage an den historischen Industriebau, der für über zwei Jahrzehnte unser Zuhause war. Zu erleben sind raum-greifende Werke von Carlos Bunga, Carlos Cruz-Diez, Fritz Glarner, Ana Montiel, Reto Pulfer, Esther Stocker und Christine Streuli.
In der Kunst beschreibt der Begriff des «All-Over» das (malerische) Prinzip einer mehr oder weniger einheitlich-flächendeckenden Gestaltung eines Bildträgers, die sich potenziell über dessen Begrenzungen hinaus fortsetzen lässt. Mit Blick auf die bald 40-jährige Geschichte des Haus Konstruktiv bezieht sich «All-Over» aber auch auf das Ende eines Kapitels: auf den nahenden Wegzug des Museums von seinem bisherigen Standort an der Sihl. Mit dem Ausstellungstitel Konzepte des all-over spielen wir bewusst mit dieser Doppeldeutigkeit: Überall! und Alles vorbei!
Gedanklicher Ausgangspunkt der Gruppenschau ist der 1963/64 von Fritz Glarner (1899, Zürich, CH – 1972, Locarno, CH) geschaffene Rockefeller Dining Room. Seit dem Einzug unseres Museums ins ewz-Unterwerk Selnau 2001 dauerhaft ausgestellt, bildet die abstrakt-geometrische Raumgestaltung das Herzstück der hauseigenen Sammlung. Bereits im russischen Konstruktivismus, dann vor allem im Umkreis von De Stijl und Bauhaus setzten Künstler und Künstlerinnen ihre geometrischen Kompositionen nicht nur in Gemälden und Plastiken um, sondern wendeten sie auch auf Produktdesigns und (Innen-) Architektur an. Glarner knüpfte bei seinem Auftrag, das Esszimmer von Nelson A. Rockefeller zu gestalten (damals Gouverneur von New York, später Vizepräsident der Vereinigten Staaten), an diese Integration der Kunst in den Alltag an. Er ging dafür von seinem System des «Relational Painting» aus, das aus Modulen von einseitig um 15 Grad angeschnittenen Rechtecken besteht. Diese Trapezformen unterschiedlicher Grösse fügte Glarner in seiner Komposition so ineinander, dass ein rhythmisch dynamisiertes und sensibel ausbalanciertes Gefüge entstand. Während die Primärfarben Rot, Blau und Gelb sowie Schwarz und Weiss vornehmlich den dichter strukturierten Partien vorbehalten sind, erscheinen die grossflächigeren Verschachtelungen in fein nuancierten Grautönen. Eng in die Idee des Relationalen eingebunden sind auch die Betrachter:innen: Die bunten, vergleichsweise auffälligen Formationen befinden sich vornehmlich im oberen Wand- und im Deckenbereich. So bleiben sie aus der Perspektive einer am Esstisch sitzenden Person gut sichtbar. Im Rockefeller Dining Room hat Fritz Glarner das Prinzip des «Relational Painting» zu einem eindrücklichen All-Over erweitert, das Form, Farbe und Leben spannungsreich miteinander verwebt.
In loser Anlehnung an Glarners einmaliges Werk lassen die weiteren in der Ausstellung präsentierten, vorwiegend neueren Werke die Museumsarchitektur selbst zum Bildträger werden. Wände, Decken und Böden sind in unterschiedlichen Spielarten mit Formen, Strukturen und Programmen versehen, die das Publikum zum Eintauchen und Verweilen einladen.
Exemplarisch für die Einbindung der Museumsarchitektur in die Kunst steht die Raumintervention A Space for Thoughts von Esther Stocker (*1974 Schlanders, IT, lebt in Wien, AT). Die Künstlerin hat unter Verwendung von schwarzem Klebeband und schwarz bemalten Holzlatten die Wände, Fenster und den Boden der grossen Eingangshalle mit einem orthogonalen Liniennetz überzogen. Fasziniert von Ordnungssystemen und «der Vagheit exakter Formen» greift Stocker in ihrer Arbeit seit Jahren auf geometrische Muster und Raster zurück. Ihr Interesse gilt jedoch ebenso der Unordnung, die ein Raster in sich birgt. Denn auch wenn eine regelmässige Rasterung für Ordnung und Klarheit steht, ist das menschliche Auge beim Anblick schnell überfordert. Diese Erfahrung kann man auch in der raumgreifenden Installation im Haus Konstruktiv machen. Durch das Prinzip der All-Over-Struktur gehen die architektonischen Elemente fliessend ineinander über, sodass der Eindruck eines grenzenlosen Raumes entsteht, in dem es schwieriger wird, sich zu orientieren.
Das gleiche geometrische Rastermotiv bildet die Basis für Stockers Knitterskulpturen – an der Wand bzw. von der Decke hängende und auf dem Boden platzierte Objekte, von denen in der Ausstellung drei als Sitzgelegenheit dienen. Für diese Werke hat Stocker PVC-Folie mit geometrischen Mustern bedruckt und auf der Rückseite mit Aluminium beschichtet. Wie bei einem zerknüllten Papier erscheint die regelmässige Rasterstruktur nun aufgebrochen und verzerrt. Esther Stocker interessiert sich genau für solche Störungen bzw. für die damit einhergehenden Fragen nach dem Verhältnis von Strukturiertheit und Verwirrung, Gewissheit und Vagheit. Stocker dazu: «In meinen Bildern, Installationen und Skulpturen möchte ich die Mehrdeutigkeit und Unsicherheit eines Systems beschreiben. Ich nutze die Präzision eines Systems, um das System selbst zu hinterfragen».
Carlos Bunga (*1976 Porto, PT, lebt in Barcelona, ES) ist bekannt für seine ortsspezifischen installativen und skulpturalen Arbeiten, die überwiegend in situ entstehen. Gefertigt aus einfachsten Materialien wie Karton, Klebeband oder textilen Produkten, werden sie nach dem Ablauf der Ausstellung zerstört oder in Elementen für Folgeprojekte wiederverwendet. Dadurch, dass Bunga die temporären Einrichtungen auch als Malgrund verwendet, changieren seine Werke zwischen Bild und Raum und lassen damit die traditionellen Grenzen zwischen Architektur, Skulptur und Malerei verschwimmen. Bunga selbst charakterisiert seine Kunst als nomadisch; Instabilität des Lebensraums, Vertreibung und Migrationsgeschichten, aber auch ein modernes Nomadentum, das mit dem Künstler:innen-Dasein einhergeht, prägen sein Schaffen. Diese Überblendung war auch Thema in Bungas Einzelausstellung I am Nomad, die 2015 im Haus Konstruktiv stattfand und seine erste Soloschau in einem Schweizer Museum war.
Für Konzepte des all-over hat Bunga im Treppenhausschacht eine neue Arbeit mit dem Titel Free standing painting (haus konstruktiv) realisiert. Sie setzt sich aus Malereien zusammen, die zwischen 2016 und 2024 entstanden sind und so von der zwölf Meter hohen Decke hängen, dass sie auf unterschiedlicher Höhe im schmalen Schacht zu schweben scheinen. Dass es sich bei den mobilen Bildträgern um mit einfacher Wandfarbe bemalte, Umzugsdecken und Teppiche handelt, erschliesst sich erst bei näherem Hinsehen, wenn man das Treppenhaus hoch- oder herunterläuft. Gleiches gilt für die tiefen Furchen und Abplatzungen, die die monochromen Farbflächen in cremigen Rosa- sowie kalkigen Weiss- oder Grautönen prägen und an verwitterte Hausfassaden oder alte Landkarten erinnern. Etage für Etage entfaltet sich im sorgfältig konzipierten Zusammenspiel von Material, Architektur und der Bewegung des Publikums ein feinfühliger, offener Dialog zwischen Innen und Aussen, Kunst und Leben, Beständigkeit und Transformation. Auch die Fragilität des Lebens und die Vergänglichkeit künstlerischer Prozesse klingen hier an – ein subtiler Bezug zum Umzug des Haus Konstruktiv und die erneute Nutzung des Museums als Industriebau.
Das künstlerische Schaffen von Carlos Cruz-Diez (1923 Caracas, VE – 2019 Paris, FR) ist geprägt von einer intensiven theoretischen und experimentellen Beschäftigung mit dem Thema Farbe und Farbwahrnehmung. Zeitlebens hat der Künstler daran gearbeitet, dieses komplexe Phänomen auf Leinwand oder Papier sowie mit Objekten und grossen begehbaren Installationen im Innen- und Aussenbereich begreifbar zu machen. Sein variantenreicher Einsatz von Licht, Bewegung und Raum sowie die aktive Einbeziehung der Betrachter:innen in die Werkidee machen Cruz-Diez zu einem der bedeutendsten Vertreter der kinetischen Kunst und der Op-Art, die nicht zuletzt dank seiner unbändigen Neugier und Offenheit gegenüber neuen Technologien bis weit über deren Blütezeit in den 1960er- und 1970er-Jahren relevant blieb.
Im ersten Stock des Museums wird mit Chromosaturation ein immersives Werk präsentiert, das zu den gelungensten Versuchen des Künstlers zählt, dem Publikum das Zusammenwirken von Farbe und Licht vor Augen zu führen. Die ursprünglich 1965 konzipierte Installation besteht aus drei miteinander verbundenen Kammern, die in blaues, rotes oder grünes Licht getaucht sind. Nacheinander betreten, lösen die monochromen, intensiv gesättigten Farbsituationen überraschende optische Effekte aus. Einen entscheidenden Anteil daran hat der physiologisch bedingte Sukzessivkontrast, bei dem nach der längeren Betrachtung einer Farbe deren Komplementärfarbe auf der Netzhaut erscheint. So wird das Publikum ganz von changierenden Farbeindrücken eingehüllt, die es seinerseits mitgeneriert. Damit macht Chromosaturation Farbe nicht nur als visuelles, sondern auch als körperliches und emotionales Erlebnis erfahrbar und vermittelt, so Cruz-Diez, auf spielerische Weise «ein Bewusstsein für die Instabilität der Wirklichkeit».
Auch das künstlerische Schaffen von Ana Montiel (1981 Logroño, ES, lebt in Mexiko Stadt, MX) dreht sich um die Subjektivität menschlicher Wahrnehmung. Bei ihren Erkundungen dazu lässt sich die Künstlerin von Theorien aus Neurowissenschaft und Phänomenologie sowie von literarischen Quellen inspirieren. Im Haus Konstruktiv zeigt Montiel *Synaptic splendour (2024). Hauptwerk ist die ortsspezifische Malerei The cortical columns (deepening into our shared fictions). Der Titel bezieht sich auf neuronale Strukturen, die sich vertikal von der Oberfläche bis zu tieferen Schichten der Grosshirnrinde (Kortex) erstrecken. Sie integrieren und verarbeiten sensorische Informationen und spielen eine Schlüsselrolle bei der Erzeugung von Wahrnehmung und Bewusstsein, indem sie «Eingangsrauschen» in «Daten» umwandeln. Unter Einbeziehung der sechs Pfeiler hat die Künstlerin im grossen Ausstellungsraum im dritten Stock mit zahlreichen Malereien eine symbolische Nachbildung dieser Millionen von Kleinststrukturen geschaffen: Schmale, vertikale Paneele ummanteln die bestehenden Stützen und säumen die Wände in einer Hälfte der Halle, wodurch sich ein durchlässiger Raum im Raum andeutet. Die Leinwände hat Montiel in vielfachen Schichten mit Acrylfarbe besprüht. Durch diese aufwendige Methode erzeugen die Werke eine irisierend-verschwommene Wirkung, die in einem spannungsreichen Kontrast zu den unzähligen Sprühpunkten steht, die aus der Nähe klar erkennbar sind. Anders ausgedrückt: Durch die Variation von Farben und Kontrasten (über-)fordert Montiel die neuronalen Systeme der Betrachter:innen und erzeugt ein vom Blickwinkel und vom Lichteinfall abhängiges, unstetes Seherlebnis. Damit schliesst Montiel unter anderem an Überlegungen des deutschen Philosophen Thomas Metzinger an, demzufolge Bewusstsein und die Wahrnehmung der Realität als eine Art Simulation des Gehirns verstanden werden können.
In den Kabinetten sind die zwei Videoinstallationen Istigkeit (Naked existence) und Khoreia (dancing in unison) zu erleben, die in Anspielung auf Aldous Huxley (The doors of perception, 1954 [Die Pforten der Wahrnehmung]) und den Philosophen Gaston Bachelard (La Poétique de la rêverie, 1961 *[Poetik der Träumerei]) die Schnittstelle zwischen Wahrnehmung, Imagination und Realität untersuchen.
Who pays the bill lautet der Titel der ortsspezifischen Wandmalerei, die Christine Streuli (*1975 CH, lebt in Berlin, DE) auf Einladung des Haus Konstruktiv für die kleinere Halle im dritten Stock konzipiert hat. Ausgangspunkt für das 360°-Panoramabild ist Max Bills Gemälde horizontal-vertikal-diagonal-rhythmus von 1942, das durch senkrecht, waagrecht und diagonal verlaufende schwarze Streifen sowie farbige Binnenflächen rhythmisch gegliedert ist. Vergrössert, teils vertikal gespiegelt und erweitert, fügt Streuli Bills Konstruktion auf der Stirnwand zu einem harmonisch wirkenden Ganzen zusammen, wobei die streng geordnete Komposition zu beiden Seiten hin kontinuierlich aufgelöst wird. Die Wandmalerei erstreckt sich weiter über die beiden schmalen Wände – zunächst mit schwarz-weissen Linienstrukturen auf der linken und bunten Farbfeldern auf der rechten – und mündet in ein energetisch-aufgeladenes, expressiv-düsteres All-Over auf der Eingangswand. Die abstrakte Komposition wird beiderseits mit figurativen Motiven wie Faltfigürchen, einem Peace-Zeichen oder einem Globus-Icon zunehmend verdichtet.
Das vielschichtige Panorama ist als Landschaft und, so Streuli, als «Stimmungsbarometer» zu lesen, in dem verschiedene, der Malerei immanente Themen wie Abstraktion und Figuration, Konstruktion und Dekonstruktion, Wert und Umwertung, Historie und Gegenwartskunst verhandelt werden. Auch der Titel ist in Bezug auf die Kunstgeschichte und deren Rezeption zu verstehen. So zielt die Künstlerin mit Who pays the Bill einerseits auf den Zürcher Konkreten Max Bill, eine zentrale Figur für das Haus Konstruktiv und für die Schweizer Kunstgeschichte schlechthin. Andererseits stellt der Werktitel gerade die Kunstgeschichtsschreibung in Frage. Dazu Streuli: «Wer zahlt und zahlte denn tatsächlich die Rechnung, wenn in der Kunstgeschichte vorwiegend männliche Kollegen unterstützt, gesammelt und gezeigt wurden? Wer zahlt, wenn nicht mehr präzise unterschieden wird zwischen Original und Fake oder zwischen Wahrheit und Täuschung?» Konkrete Antworten liefert die Künstlerin ganz bewusst nicht. Aber sie liefert mit ihrer Malerei ein Beispiel dafür, wie anregend und lustvoll über Malerei und deren ambivalente Geschichte nachgedacht werden kann.
Der Autodidakt Reto Pulfer (1981 Bern, CH, lebt in der Uckermark, DE) wechselt virtuos zwischen Disziplinen diesseits und jenseits der Kunst. Sein Schaffen vereint textile und installative Techniken mit Malerei, Performance, Musik, Literatur und Gärtnerei. Die Natur ist dabei ein ebenso wichtiger Bestandteil wie architektur-historische Bezüge zu altägyptischen Grabkammern oder römischen Raumbemalungen aus Antike, Renaissance und Barock. Für *Konzepte des all-over verwandelt Pulfer die Ausstellungsräume im vierten Stock in einen immersiven Parcours aus Textilien, Fundstücken, Klang und Text. Selbstgenähte Zelte aus gebrauchten, oftmals handgefärbten Stoffen integrieren sich in die verwinkelte Architektur und eröffnen verschiedenartige temporäre Räume, die atmosphärisch und narrativ stark aufgeladen sind.
Eben noch in der Kunst Halle Sankt Gallen installiert, führt Tunnel (2024) – eine schlauchartige Konstruktion aus Käseleinen – die Besucher:innen durch die Passerelle des Haus Konstruktiv. Das Charakteristische der Durchgangssituation wird durch diesen halbtransparenten Korridor erst recht akzentuiert. Auch die Zusammenstellung grossformatiger Textilarbeiten aus den Jahren 2015–2024 in den Folgeräumen reagiert als osmotisches und perforiertes architektonisches Fragment auf den bestehenden Bau und funktioniert, so Pulfer, als «Resonanzkörper» dessen, was bereits vorhanden ist. Die zusammengefügten Stoffe sind allesamt Träger von eigenen literarischen Textfragmenten, kryptischen Zeichen und Symbolen sowie einer Vielzahl von Motiven mit fantastischen Pflanzenwesen. Gemalt, gezeichnet, gestrickt oder gestickt, wachsen sie rhizomartig zu einem Ornament zusammen, das sich installativ mit Blüten, Steinen und handgewebten Stoffbändern in den Raum erweitert. Eine Konstante in diesem prozesshaften Arbeiten bildet die Idee des «Zustands», der sowohl in der Materialität als auch in den variablen Formationen der einzelnen Werke zum Tragen kommt. Mit dem vielschichtig installativen Setting Zustand urgeflecht ermöglicht der Künstler dem Publikum im Haus Konstruktiv einen Zugang zu verschiedenen Zuständen – emotional wie gedanklich – und dies auch im Rahmen einer Performance (mit anschliessendem Artist Talk), die am 22. Januar 2025 stattfindet.