1935 prägte Walter Benjamin den Begriff der Aura. Damit beschrieb er eine schwer in Worte zu fassende ästhetische Erfahrung, die er beim Betrachten mancher Gegenstände machte: eine Art atmosphärische Verdichtung, die das Wesen dieser Dinge freizulegen schien, ein simultanes Gefühl von großer Nähe und Ferne. Die Werke in adopted, der neuen Ausstellung von Michail Pirgelis in der Galerie Sprüth Magers Berlin, erinnern stark an Benjamins Idee der Aura. Auch die hier ausgestellten Objekte verweisen auf so viel mehr als sich selbst und wirken nah und unglaublich fern zugleich. Beim Betrachter lösen sie eine Reihe psychologischer und körperlicher Assoziationen aus, deren er sich kaum erwehren kann. Trotz ihrer fast schon minimalistisch wirkenden Strenge ermöglichen sie archäologische Einblicke in eine Welt, wie man sie so noch nie gesehen hat.
Das Material für einen Großteil seiner Arbeiten findet Michail Pirgelis auf Flugzeugfriedhöfen in Kalifornien und Arizona, wo ausrangierte Passagiermaschinen auf ihre Demontage und die Weiterverwertung ihrer wertvollen Aluminium- und Titanlegierungen warten. Pirgelis trennt bestimmte Segmente aus den gigantischen Karosserien heraus und verarbeitet sie dann in seinem Atelier weiter. Für adopted belässt er einige von ihnen weitgehend in ihrem Originalzustand, etwa die fast drei Meter große Bremsvorrichtung der Arbeit Onera, die an ein Kreuz erinnert. Bei Flugzeugteilen wie den leinwandgroßen, rechteckigen Außenwandfragmenten hingegen legte er an bestimmten Stellen das unter der Lackierung liegende Material frei. Die Kalotte der Arbeit When it is called a moment wiederum – ein für den Druckausgleich verantwortliches und die Passagiere normalerweise unsichtbares Bauteil aus dem Rumpf des Flugzeugs – schliff und polierte er so lange, bis ihre gewölbte Aluminiumoberfläche einem Konvexspiegel glich. Zusammen mit zwei weiteren Kalotten ragt sie in einer konzentrischen Dreierformation in den Ausstellungsraum hinein. Die elastischen Platten vom Boden der Flugzeugkabine schließlich installierte Pirgelis für die Arbeit Beer or Wine mitsamt ihrer Klebstoffspuren, Schrauben und Sitzbeinlöcher auf einem nicht sichtbaren, schwingenden Podest.
Durch ihre Bearbeitung und ihre Dekontextualisierung verlieren die ausgestellten Materialien nicht nur ihre eigentliche Bestimmung, sondern werden auch zu skulpturalen Objekten mit einer ureigenen Präsenz. Manchmal erinnern sie an die heroischen Gesten des Wohnhäuser und Fabrikhallen zerlegenden Gordon Matta-Clarks, manchmal an die Autokarosserie-Skulpturen von John Chamberlain, manchmal an den minimalistischen Aluminiumfetisch Donald Judds, an die psychosozial aufgeladenen Objekte von Rosemarie Trockel oder die archäologische Finesse der Installationen von Cyprien Gaillard. Die Arbeiten in adopted sind gleichermaßen kulturelle Relikte und kunsthistorisch zu verortende Objekte. Pirgelis gelingt es, die lange Geschichte der Konzeptkunst um eine spezifische Sensibilität und eine radikale Position zu erweitern.
Ein besonderer Aspekt dieser Position ist ihre narrative Stärke. Diese trägt erheblich zur auratischen Aufladung dieser Werke bei. Den hier gezeigten Arbeiten gelingt es, die unterdrückten Ängste freizulegen, die wir unbewusst oft mit dem Fliegen assoziieren, obwohl es für so viele von uns zum Alltag gehört. Mit der Verarbeitung gefundener Paraphernalien hat Pirgelis schon in früheren Ausstellungen auf die kulturellen Kompensationsmechanismen von Mode, Glamour und Mondänität aufmerksam gemacht, die lange nötig waren, um Menschen die Angst vor dem Fliegen zu nehmen. In adopted weist der Siebdruck eines Pan-Am-Publicity-Fotos vom bekannten spanisch-französischen Clown und einstigen Weltstar Charlie Rivel auf diesen Umstand hin. Mit exaltierter Komik scheint Rivel auf dem Foto noch auf der Flugzeugtreppe dem Himmel dafür zu danken, heil am Boden angekommen zu sein. In seinen skulpturalen Arbeiten kommt Pirgelis zudem immer wieder auf die möglicherweise bald ablaufende Halbwertzeit des Traums vom Fliegen zurück. Indem er die Materialien für seine Arbeiten „recycelt“, verhandelt er ganz konkret die Ängste, die in Zeiten von Rohstoffknappheit, Ölkrisen, Terroranschlägen, globalen Rezessionen und Klimawandel mit der Luftfahrt verbunden sind.
Kulturhistorisch galt das Fliegen schon immer als der Inbegriff menschlicher Hybris – als eine Tätigkeit, die mit der Gefahr einer möglicherweise göttlichen Bestrafung einherging. Die Arbeiten in adopted zeichnen sich durch eine Mischung von Archaik und High-Tech aus, von Verletzlichkeit und Stärke und machen diese Idee von Hybris so geradezu körperlich erfahrbar. Dass Objekte von solcher Masse, solchem Gewicht und solcher Fragilität die Schwerkraft überwinden und Menschen sicher durch den Luftraum befördern sollen, muss den Betrachter zwangsläufig an die Grenzen seines Vorstellungsvermögens bringen. Vielleicht war es genau dieses Gefühl des Prekären oder diese Ahnung von Magie, die Benjamin mit seinem Begriff der Aura meinte.
Michail Pirgelis (*1976, Essen) lebt und arbeitet in Köln. 2010 erhielt er den Audi Art Award für „Neue Positionen“ auf der Art Cologne und war Stipendiat des Schloss Ringenberg. Im Jahre 2008 wurde er als erster mit dem Adolf-Loos Preis der Van den Valentyn Foundation, Köln, ausgezeichnet. 2007 erhielt er den Preis der Villa Romana in Florenz. 2011 wurden Pirgelis’ Arbeiten in einer Einzelausstellung in der Artothek in Köln gezeigt. Zu den Gruppenausstellungen zählen unter anderem Präsentationen im Stadtmuseum Düsseldorf (2005), dem Kunstmuseum Bonn (2010), auf der Thessaloniki Biennale (2011), im Museum Morsbroich, Leverkusen (2012) und dem Istanbul Modern (2013).
Galerie Sprüth Magers
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