Nicht alle Gegenstände werden von Designern gestaltet. Zahlreiche autorenlose Alltagsobjekte entwickeln sich in Form, Funktion und Materialität über Jahrhunderte stetig weiter. Einige verändern sich dabei nur im Detail, bei anderen lösen gesellschaftliche, politische oder technische Umbrüche einen rasanten Wandel aus. Das französische Designkollektiv »Collections Typologie« interessiert sich dafür, welche Einflüsse die Gegenstände unseres Alltags formen und verändern. Dabei erforscht das Kollektiv die Geschichte, Herstellung und Formensprache von Gegenständen wie Weinflaschen, Korken oder den Metallkugeln des französischen Pétanque- oder Boulespiels. Die Ausstellung »Typologie. Eine Studie zu Alltagsdingen« in der Vitra Design Museum Gallery präsentiert die Ergebnisse dieser Recherchen und stellt die aktuelle Arbeit zur Obst- und Gemüsekiste vor. Der einzigartige Blick des Kollektivs lädt uns dazu ein, bisher übersehene Teile unserer Objektkultur zu betrachten. Gleichzeitig ermutigt die Ausstellung dazu, unsere Beziehung zu Alltagsgegenständen – gerade im Hinblick auf den derzeitigen Diskurs zu Ressourcenverbrauch und Lebensgewohnheiten – kritisch zu hinterfragen.
Hinter Collections Typologie stehen die vier französischen Produktdesigner Raphaël Daufresne, Thélonious Goupil, Guillaume Bloget und Guillaume Jandin. Seit 2016 untersuchen sie in minutiöser Recherchearbeit jeweils einen bestimmten Objekttypus und präsentieren ihre Ergebnisse in ansprechend gestalteten Publikationen und Ausstellungen. Dabei fokussieren sich die vier Designer auf kleinste Details von Dingen, deren Entstehung und Entwicklung nur selten wahrgenommen oder dokumentiert wird. Ursprünglich angetrieben wurde das Kollektiv von der Erkenntnis, dass die von bekannten Designern gestalteten Objekte des 20. und 21. Jahrhunderts umfassend belegt, beschrieben und besprochen werden, während einfache Alltagsgegenstände zwar häufig auf eine lange und komplexe Entwicklung zurückblicken, im Museumskontext jedoch so gut wie keine Rolle spielen.
Der Arbeitsprozess von Collections Typologie beginnt mit der Sammlung unterschiedlichster Exemplare eines Objekts, deren Formgebung sie erfassen, um dann gemeinsam mit Experten auch die Historie zu rekonstruieren und zu diskutieren. Diese Herangehensweise birgt teilweise überraschende Einsichten und neue Fragestellungen. So hat sich beispielsweise die Form der Weinflasche trotz neuer technischer Möglichkeiten über Jahrhunderte kaum verändert. War dieses Objekt von Anfang an perfekt oder duldet unser Traditionsbewusstsein in Bezug auf Wein nur allerkleinste Abweichungen in dessen Präsentationsform? Der Korken in der Weinflasche ist zudem technisch nicht mehr unbedingt notwendig. Trotzdem wäre ein guter Wein ohne »echten« Korken kaum denkbar. Die Pétanque- oder Boulekugel ist heute ein industrielles Massenprodukt, begann ihren Werdegang jedoch zunächst als Holzkugel, die später mit Nägeln beschlagen und dadurch schwerer wurde. Generationen von Spielern haben das Objekt immer wieder erprobt und optimiert. Eine sorgfältigere, nachhaltigere Form der Produktentwicklung als die heute üblichen Designverfahren? Die Vorgänger der Gemüsekiste wiederum bestanden jahrhundertelang aus mühsam hergestelltem, kaum standardisiertem Korbgeflecht, bis sie in einer rasanten Entwicklung zu einem heute millionenfach produzierten Wegwerfobjekt mutierten. Wie spielten die Kräfte des sich spezialisierenden Gemüsehandels, den damit zusammenhängenden immer längeren Transportwegen und den Möglichkeiten der industriellen Fertigung hier zusammen? Wieso wird dieses Objekt einzig aus Pappelsperrholz hergestellt? Und welche Rolle spielen Kisten aus Plastik?
»Typologie« macht die enge Verflechtung zwischen materialkulturellen Entwicklungen und Prozessen wie Industrialisierung und Globalisierung sowie lokaler Ressourcenverfügbarkeit auf eindringliche Weise sichtbar. Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen die vier bisher untersuchten Objekttypen, wobei Exponate aus dem eigenen Bestand von Collections Typologie durch Leihgaben aus privaten und institutionellen Sammlungen ergänzt werden. Ebenfalls gezeigt werden die dazugehörigen Publikationen, von denen die aktuellste zur Eröffnung der Ausstellung im eigenen Verlag von Collections Typologie erscheint.
Unser Ziel besteht darin, die Wahrnehmung vertrauter Dinge zu verändern, indem wir die Betrachter ermutigen, sie neu in den Blick zu nehmen. Jede Ausgabe unserer Zeitschrift ist einem einzigen Objekt gewidmet und ergründet dessen Geheimnis, indem sie seine Herstellung dokumentiert und – mit der Hilfe von Industriellen, Historikern, Gestaltern und Verbrauchern – seine Geschichte nachzeichnet.
(Thélonious Goupil, Gründungsmitglied der Collections Typologie)