Betrachtet man die Bilder des amerikanischen abstrakten Künstlers Harvey Quaytman (1937-2002) und sein über vier Jahrzehnte geschaffenes Oeuvre, so fällt einem vor allem die schiere physische Präsenz der Werke und die Fülle an Formen, Farben und Materialien auf. Seine unverwechselbare und persönliche Herangehensweise zur Abstraktion widersteht jedem Versuch, es auf einfache Weise zu erfassen oder gar zu kanonisieren. Kuratorin Apsara DiQuinzio stellt Quaytman‘s Ansatz an die Schnittstelle "Abstrakter Expressionismus, Minimalismus, Prozesskunst und Konstruktivismus, ein Ort, an dem Überlegungen zu Linien, destillierten geometrischen Formen, Materialität, Atmosphäre und Textur verschmelzen".
Galerie Nordenhake präsentiert eine Auswahl von Bildern, die zwischen 1980 und 1995 entstanden sind, als Quaytman sich entscheidet, mit einer kreativen Selbstbeschränkung zu arbeiten und sich auf die Grundform einer quadratischen Bildfläche mit einer gleichseitigen Kreuzform darin zu konzentrieren. Die Kreuzform vereint und teilt das Bild zugleich und erzeugt vier kleinere Quadrate innerhalb des quadratischen Bildfeldes. Innerhalb dieser Grenzen findet Quaytman eine Struktur, in der er in scheinbar endlosen Variationen das Zusammenspiel von Symmetrie und Asymmetrie studierte. Er lässt einen Rhythmus durch Wiederholungen, Formen, Texturen und Farbe entstehen. Quaytman, ein Meister der Farbe, ist immer auf der Suche nach seltenen Pigmenten. Er stellt seine eigene Acrylfarbe her, indem er Rhoplex (ein wasserbasiertes Acrylpolymer) mit wenigen Pigmenten kombinierte und lange damit experimentierte. Er nimmt gemahlenes Glas in seine Leinwandfarben auf wie in Tema Negra (1989) und Scorch (1987/88); oder verwendet Eisenspäne, die schließlich mit Wasser besprüht werden und sich so in Rost verwandeln wie in What if? (1987) und Sourceress (1989). Quaytman hat seine Pigmente nie mit Schwarz oder Weiß vermischt. Er benutzte sie als eigenständige Farben und trug Schichten aus jeweils verschiedenen Pigmenten übereinander auf, meist zwei bis vier Farben.
Quaytmans Gespür für Musik und seine verbale Verspieltheit sind in seinen Titeln gegenwärtig. Pirate (1988) ist ein Wortspiel mit Pyrit, einem grau-grünen natürlichen Pigment, auch Narrengold genannt. Time Square (1987) bietet eine Doppeldeutung, indem er einerseits auf den berühmten Times Square in New York verweist und andererseits eine zeitliche Dimension hervorruft und den dreidimensionalen Aspekt seiner reliefartigen Malerei betont. Das Hinzufügen des Buchstabens "u" zum Wort sorceress (Zauberin) öffnet eine weitere Ebene, um das Gemälde mit dem Titel „Sourceress“ (vielleicht etwa: die Mystik der Quelle) zu betrachten. Wie Magier beschwören Maler und Malerei neue Beziehungen zwischen Klang und Bedeutung.
Im Ausstellungskatalog der Galerie Nordenhake erklärte Quaytman 1986: Ich interessiere mich in keiner symbolischen Weise für das Kreuz. Ich bin nicht an Textur interessiert. Es geht darum, wie die Farbe aussieht, nachdem ich durch sie meine Ideen zum Ausdruck gebracht habe. Ich interessiere mich nicht für Geometrie an sich, jedoch systematisches Zeichnen ist fundamental für meine Arbeit. Hören Sie Schönbergs Verklärte Nacht einmal.
Harvey Quaytman wurde 1937 in Far Rockaway, NY, geboren, wo er 2002 starb. Er lebte und arbeitete kontinuierlich in New York City und unterhielt ein Studio auf der Bowery. Nach seiner ersten Einzelausstellung in London 1962 hatte er mehr als sechzig Einzelausstellungen in den Vereinigten Staaten, Europa und Australien sowie Gruppenausstellungen in Museen und Galerien weltweit, darunter das Contemporary Arts Museum, Houston (1967); Jewish Museum, New York (1970); Art Institute of Chicago (1971/1972); Grand Palais, Paris (1980); Ateneum Art Museum Helsinki (1987); das Whitney Museum of American Art, New York (1987) und PS1 Contemporary Art Center, New York (1999). Im Jahr 2018 organisierte das Berkeley Museum (BAMPFA) die erste Retrospektive seiner Arbeit. Seine Werke sind weltweit in öffentlichen und privaten Sammlungen vertreten, darunter das MoMa, New York; Tate Gallery, London; das Louisiana Museum of Modern Art, Humblebæk, Dänemark; Malmö Konsthall, Tel Aviv Museum of Art; das Fogg Museum, Harvard University, Cambridge und das Carnegie Museum of Art, Carnegie Institute Pittsburgh. Zu den Auszeichnungen, die Quaytman erhielt, gehören zwei Guggenheim-Stipendien (1979 und 1985) und ein Academy Award in Art der American Academy of Arts and Letters (1997). Dies ist die sechste Einzelausstellung von Harvey Quaytman Werk in der Galerie Nordenhake, nach Ausstellungen in der Galerie zu seinen Lebzeiten in 1981, 1986, 1987, 1990 und 1996.