Vor zwei Jahren zerstörte Alexander Iskin während einer Performance seinen Computer und sein Smartphone. Danach verschwand er aus den sozialen Medien, arbeitete in Havanna und Mexiko City. Nach einer Ausstellung in Los Angeles zog er auf ein abgelegenes Schloss, um seine neue Ausstellung vorzubereiten. Entstanden sind – nach einem Terminus des Künstlers – interrealistische Landschaftsbilder. Durch einen Drehmechanismus können diese jeweils um neunzig Grad gedreht werden, so dass sie keine festgelegte obere, untere, rechte oder linke Seite haben. Damit hat der Betrachter Einfluss auf das Formale des Bildes und mittelbar auf dessen Inhalt. Anregungen für die Arbeiten lieferten neben der Landschaft am Unterlauf der Saale die Bücher The Overview Effect von Frank White und Finnegans Wake von James Joyce.
Alexander Iskin: “Durch Frank White habe ich verstanden, wie klein die Erde ist und dass Grenzen, Kulturen und Meinungen nur konstruierte Hilfestellungen sind. Faszinierend fand ich die Vorstellung der Erdrotation. Einerseits das Repetitive, aber auch das immer wieder Neue. Man denke nur an die sich ständig ändernden Wolkenformationen. Das habe ich versucht, in Malerei zu übersetzen. Dadurch kam mir auch die Idee für die Rotationsbilder. Durch das Drehen verändern sich Inhalt und Perspektive, auch führt es zur Vermeidung von Clichés. Der Ausstellungstitel entstammt Finnegans Wake und ist eine Aneinanderreihung des Wortes Donner in zehn ausgestorbenen Sprachen. Die Erde, also unsere Welt, ist im Umbruch. Und ein Donner ist eben dies – ein Umbruch.”
Was bedeutet Interrealismus für Iskin und welche Relevanz hat der Umbruch für ihn? Wir leben heute in zwei Wirklichkeiten; einer physischen und einer virtuellen. Der von Iskin proklamierte Interrealismus untersucht den Raum dazwischen. Der Umbruch liegt darin, dass wir früher in einer Wirklichkeit lebten, diese heute aber von einer zweiten Realität überlagert wird. Das Dazwischen, die Inter-Realität, sind Entstehungsort und Reflexionsgegenstand von Iskins Arbeiten. Die Rotationsbilder haben weder Oben noch Unten. Der Betrachter hat die Wahl für welche Bildwirklichkeit er sich entscheidet. Dabei fehlt jede Hierarchie. Um diese Hierarchielosigkeit sicherzustellen, malt Iskin die Bilder von allen Seiten. Das hat auch etwas Filmisches. Iskin interessiert der Moment zwischen den Bildern.
Der Malprozess geht einher mit aleatorischen Momenten, mit Formen, die zufällig entstehen und die man sich nicht ausdenken kann. Insoweit werden die Bilder zu Akteuren. Jeder kennt das Diktum Picassos, er suche nicht, er finde. Auch Iskin lässt sich von seinen Bildern überraschen. Als Betrachter kann man dies nachempfinden: mit jeder Drehung neue Metamorphosen. Es wäre übertrieben zu sagen, die Bilder malten sich von selbst. Aber Iskin malt sie nicht alleine; sie entstehen in einem Dazwischen, in der Interrealität.
Wenn Iskin vom Umbruch spricht, denkt man im Kontext der Kunst auch an die Brüche der Moderne. Vor einem Jahrhundert wurde erstmals ein abstraktes Bild gemalt, atonale Musik komponiert, der literarische Strom des Bewusstseins freigesetzt – die Figur zerrieben, die Tonalität aufgelöst, der Erzähler getötet. Revolutionäre Akte der Befreiung. Ein halbes Jahrhundert später zerlegte wiederum die Postmoderne den Totalitätsanspruch der Moderne.
Wo aber steht der Interrealismus? Iskin sieht in der virtuellen Welt eine Gefahr, weil sie droht, übermächtig zu werden und neue Hierarchien zu schaffen. Für seine Kritik an dieser neuen Welt bedient er sich des klassischen Mediums der Malerei. Seine Bilder leugnen nicht ihre Herkunft, die Erfahrungen der Moderne, des Expressionismus und des Kubismus. Man spürt den Einfluss der Farbigkeit eines Otto Müller oder Schmidt-Rottluff. Trotz dieser Tradition gibt Iskin nicht den großen Erzähler. Das hat etwas Postmodernes. Er dekonstruiert aber auch nicht. Vielmehr sucht er nach einer neuen Harmonie zwischen den Realitäten, gebrochen nur durch ein Augenzwinkern und seinen kaum unterdrückten Spieltrieb. Dadurch entsteht, ganz im Sinne Lyotards, keine große Erzählung. Aber Iskin strebt nach einem harmonischen Zusammenspiel der verschiedenen Blickwinkel, Fragmente und Wirklichkeiten. Sein Interrealismus und seine Malerei haben etwas zutiefst Konstruktives, Positives, Humanes und – das ist wichtig: Humorvolles. Aufklärung, nicht als gefährliche Dialektik, Postmoderne, nicht als Disparität, sondern Interrealismus als romantisch-verspielte Hingabe an die Pluralität der Welten. In gewissem Sinne könnte man seine Malerei als transmodern bezeichnen, als eine Untersuchung des Dazwischen. Iskins Bewegung: Mit einem Lächeln aus der Tradition durch die Moderne in die Interrealität. Nach seiner Ausstellung in Los Angeles und einem Winter auf Schloss Beesenstedt ist Iskin bereit für den nächsten Umbruch. Er wird für einige Zeit verschwinden. Zwischen den Welten. Inter-Reality.