Über Dorota Jurczaks Kunst zu sprechen ist nicht einfach, da ihre Bilder und Skulpturen nicht - wie heutzutage üblich - auf aktuelle Diskurse Bezug nehmen oder Themen illustrieren, die von der Gesellschaft für relevant erachtet werden. Eigentlich brauchen die Werke auch keine Erklärung, da sie den Betrachter oder die Betrachterin direkt ansprechen und in eine andere Welt entführen. Das heißt aber nicht, dass Jurczaks Werke naiv oder primitiv wären, sie sind vielmehr literarisch informiert.
Jurczak ist eine legendäre Leserin. Als sie zum Beispiel Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ las, tat sie dies in einer fast performativen Art, so fokussiert, dass während der Lektüre in ihrem Leben nichts Anderes mehr von Bedeutung war. Für einige Wochen verschwand sie komplett aus der Gegenwart und tauchte in Monsieur Swanns Welt ein.
So überrascht es nicht, dass man in Jurczaks Radierungen eine starke Verwandtschaft zur Phantastischen Literatur findet. Das Skurrile und Bizarre wie auch eine Neigung zum Eskapismus sind Wesensmerkmale, die ihre Arbeiten mit dem Genre verbinden. Damit bewegt sie sich in einer bestimmten Tradition. So hat zum Beispiel der Künstler Alfred Kubin neben seinen Graphiken auch den Roman „Die andere Seite“ hervorgebracht, in dem es um ein geheimes Fantasiereich geht. Zu nennen sind auch die Bücher Raymond Roussels, die von den Surrealisten geradezu kultisch verehrt wurden und auch für Dorota Jurczak prägend waren.
Viele ihrer Portraits und Büsten tragen daher Titel wie „Denton“ oder „Alfred“. Mit dem entsprechenden Hintergrund kann man sich die Nachnamen Welch und Jarry dazu denken und als Verweise auf Protagonisten der Weltliteratur entschlüsseln. Alfred Jarrys Schnurrbart geistert entsprechend durch viele Gesichter in Jurczaks Bildern. Literatur, Phantasie und Empathie sind einige der wichtigsten Quellen, aus denen die Künstlerin ihre Bilder und Figuren schöpft.
2006 wurde Jurczak von Maurizio Cattelan eingeladen, ihre Radierungen auf der 4. Berlin Biennale „Of Mice and Men“ zu zeigen. Seitdem gilt sie als eine derjenigen Künstlerinnen, die das Medium in der Gegenwartskunst rehabilitiert hat.
In der neuen Serie von Radierungen, die in der Galerie Sies + Höke zum ersten Mal gezeigt werden, scheint eine allgemeine Bettlägerigkeit vorzuherrschen. Ob es Müßiggänger sind oder Krankheit sie darniederliegen lässt, bleibt unklar. Wieder wird an Denton Welsh erinnert, der eigentlich Maler und nicht Schriftsteller werden wollte, und der nach einem schweren Unfall ans Bett gefesselt war. Eine andere dargestellte Person schläft und wirkt dabei friedlich, scheinbar eine geglückte Flucht ins Traumreich.
In den Bildern und Radierungen verschmelzen die mehr oder weniger naturalistischen Köpfe zu reduzierten Grundformen; Vögel werden zu Tropfen, Büsten zu pokalartigen Monumenten. Es ist wie bei einer umgekehrten Pareidolie: so bezeichnet man die Neigung, in allen möglichen Alltagsgegenständen - wie zum Beispiel Steckdosen - Gesichter zu erkennen. Man denkt auch an Brancusis Reduktionen oder wie Fatima Hellberg einmal über Jurczaks Arbeitsweise schrieb: „Jurczaks Figuration deutet an, wie viel - oder viel eher - wie wenig es braucht, um Geist und Idiosynkrasie eines Wesens heraufzubeschwören.“
Jurczaks Imaginationen stellen die Frage, was Kunst kann und soll. Jenseits von Diskursen und Theorien präsentiert sie Kunst als etwas Phantastisches, als einen Ort, der besser, schöner und sagenumwobener ist als das digitalisierte Hier und Jetzt.