Die in Basel wohnhafte Anna Winteler gehört seit den frühen 1980er-Jahren zu den bedeutendsten Schweizer Video- und Performance-KünstlerInnen. Nachhaltig hat sie die Szene geprägt, viele junge KünstlerInnen beziehen sich direkt oder indirekt auf sie. Sie fehlt in keiner Ausstellung zur Schweizer Video- oder Performancekunst. Auch im Ausland wurde ihre Arbeit insbesondere in den 1980er- und 1990er-Jahren mit grossem Interesse wahrgenommen. Und doch steht eine Gesamtschau über ihre Videoarbeiten von den 1970er-Jahren bis in die 1990er-Jahre noch aus. Dies ist Aufgabe der Ausstellung im Kunsthaus Baselland.
Anna Winteler ist eine Ausnahmeerscheinung, und das nicht nur in der Schweizer Video- und Performanceszene. 1954 in Lausanne geboren, aufgewachsen in Perreux/Kanton Neuenburg, absolvierte sie früh eine Ausbildung für Musik und besonders den Tanz und ging in der Folge in den frühen 1970er-Jahren nach London, Cannes, Stuttgart und Paris, bis sie 1978 nach Basel zog. Bereits mit ihrer ersten eigenen Videoarbeit, Le Petit Déjeuner sur la Route d’après Manet von 1979, erlangte Winteler grosse Aufmerksamkeit. Vor der Kamera agierend, schreitet die Künstlerin linear in den frühen Morgenstunden von der Mittleren Rheinbrücke in Basel bis zur Wettsteinbrücke, gegen den Strom, flussaufwärts, und entledigt sich dabei ihrer betont weiblichen Kleider.
Der Körper und die jeweiligen Bewegungen im Raum sind denn auch die wesentlichen Themen, die Anna Wintelers Schaffen prägen. Für sie wird der Körper zu einem Koordinatensystem und zugleich Orientierungspunkt innerhalb einer räumlichen Setzung, im Innen- oder auch Aussenraum, ein Unten, Oben, Recht und Links. Der weibliche Körper ist bei Winteler nicht jener, der in seiner Erotik und Fragilität voyeuristisch gezeigt und festgehalten wird; vielmehr ist es der Körper, der mit jedem Schritt und Tun den Balanceakt halten muss und zugleich an seine physischen Grenzen geführt wird. Ein Körper, der sich selbstbestimmt und selbstbewusst bewegt, der fällt, wieder aufsteht, wieder fällt, scheitert – und doch unversehrt bleibt. Es ist der Körper, der den Raum durch Bewegung vermisst und ihn sich dadurch zu eigen macht. Bergformationen gleiten über zu Körperlandschaften. Discours des Montagnes à la Mere / Rede der Berge an das Meer ( — an die Mutter). Die Kamera richtet sich mal auf seine Ganzheit oder auch nur auf Teile wie den Torso, den Kopf oder die Hände, die alltägliche Bewegungen ausführen, wie das Einschenken und Trinken von Tee, das Sich-sanft-vor-den-Körper-legen-und-einander-Berühren, um im nächsten Moment gegen den Monitor zu schlagen.
Wie allen ihren Videoarbeiten unterlegt Anna Winteler die jeweiligen Arbeiten mit einem präzisen Konzept, doch geprobt, wiederholt oder gar korrigiert werden sie nicht. Der Ort der Dreharbeit wird einmal bestimmt: die zumeist allein agierenden Personen vor der Kamera, das gesamte Setting, die Kameraführung, die entweder sie selbst oder ein Kameramann, oft Reinhard Manz, übernimmt. Schnitte gibt es kaum. Die Erfahrung der Echtzeit ist wesentlich bei den Videoarbeiten von Anna Winteler, um auch dem Betrachter respektive der Betrachterin ein physisches Moment zu ermöglichen. Häufig ist es ein Thema, das sie in mehreren Arbeiten durchdekliniert, um dann zum nächsten zu gehen. Dass sie nicht wiederholt, scheint logisch. Es gibt keinen Blick nach hinten.
Anna Winteler war von Anbeginn ihres Schaffens nicht an der Ausprägung einer wiedererkennbaren, sich wiederholenden Handschrift interessiert. Das spiegelt auch ihre Vita wider, die nicht einer äusseren, formal gängigen Künstlerinnenlaufbahn entspricht, sondern vielmehr einer inneren Logik folgt. Tanz, Körperarbeit, Video, Performances und Körperarbeit. Der Umstand, dass sich Winteler ab den 1990er-Jahren von der aktiven Kunstproduktion abwandte, das Arbeiten mit dem Körper allerdings intensiv weiterführte, scheint eher als logische Konsequenz denn als Bruch. In nahezu eruptiven Prozessen entstehen in der Zeitspanne von 1979 bis 1991 rund 30 grössere Videoarbeiten, begleitet von zahlreichen Liveauftritten wie der Holzperformance, die sie in Basel, Zürich, aber auch an unterschiedlichen Orten in Deutschland durchführte. Die breite Wahrnehmung ihrer Werke ist auch der sehr präsenten Persönlichkeit von Anna Winteler selbst geschuldet. Ihr radikales und zugleich konsequentes Arbeiten wird in der Öffentlichkeit und insbesondere bei den Kunstschaffenden aufmerksam verfolgt — auch über Länder- und Gattungsgrenzen hinweg.
In dieser Beschäftigung mit dem Video und im Speziellen dem Körper, den Anna Winteler bis heute nicht aufgegeben hat, liegt denn auch das Spezifische und zugleich zeitgenössisch Relevante ihrer Arbeiten, gerade vor dem heutigen Hintergrund eines aktuellen Diskurses über den Körper, dessen Selbstbestimmung sowie das Erfahren können von Welt durch den eigenen Körper.
Ein Überblick über das gesamte umfangreiche Videoschaffen von Anna Winteler, von den späten 1970er-Jahren bis in die frühen 1990er-Jahre stand bis heute aus. Es nun im Rahmen einer Ausstellung und einer begleitenden Publikation zu würdigen, erscheint zum jetzigen Zeitpunkt äusserst günstig. Fast alle relevanten Videoarbeiten konnten digitalisiert und für die Vorführung aufbereitet werden. Anna Winteler selbst war bereit, sich auf diese Rückschau einzulassen, ihr gesamtes Video- und Fotoarchiv zu öffnen und mit grossem Engagement diesen Rückblick und zugleich Ausblick zu begleiten. Zudem hat es sich glücklich gefügt, dass die Künstlerin Käthe Walser, die Anna Winteler seit den 1980er-Jahren als Künstlerkollegin kennt und schon vielfach für Ausstellungen massgeblich begleitet hat, für diese Videoretrospektive bereitstand. Ich selbst kenne das Werk von Anna Winteler erst seit wenigen Jahren, in der heutigen Intensität erst seit Beginn des Ausstellungsprojekts. Eben dies bildete für uns drei den besonderen Reiz des gesamten Vorhabens. Statt einer Rekonstruktion von Gewesenem steht daher ein Erfahren-Können der Aktualität und Zeitgenossenschaft im Vordergrund, ohne auf eine werkimmanente Präsentation verzichten zu müssen. Ziel war es, das Werk von Anna Winteler aus der heutigen Perspektive und unter heutigen Fragestellungen einer Generation zu eröffnen, die bislang noch keinen Kontakt mit dem Werk haben konnte, und zugleich denjenigen, denen das Werk bereits in den 1980er-Jahren vertraut war, eine neue Perspektive aufzuzeigen. Dies alles vor dem Hintergrund, einer der unbestritten wichtigsten Schweizer Video- und Performancekünstlerinnen und ihrem Werk angemessen Rechnung zu tragen. Text von Ines Goldbach
Im April wird die erste Monographie zu Anna Winteler in der Reihe der Binding Sélection d’Artistes erscheinen. Autorinnen und Autoren der Publikation sind u.a.: Jacqueline Burckhardt, Erich Busslinger, Christoph Gallio, Ines Goldbach, Esther Maria Jungo, Monica Klingler, Reinhard Manz, René Pulfer, Hinrich Sachs, Ines Tondar, Käthe Walser, Anna Winteler, Beat Wismer.