In einer Skizze für einen Film notierte Michelangelo Antonioni: „Die Gletscher der Antarktis rücken jährlich drei Millimeter auf uns zu. Ausrechnen, wann sie ankommen. In einem Film vorhersehen, was dann passieren wird.“

Die Metapher der Kälte steht für eine tief empfundene Entfremdung. Bereits für die Soziologen um 1900 war Entfremdung ein beherrschendes Thema: die Entfremdung des Menschen von sozialen Bindungen durch Individualisierung, die Entfremdung von der Natur durch Urbanisierung, die Entfremdung von der Arbeit durch Technisierung. Für Philosophen wie Theodor W. Adorno wird Entfremdung dann auch in Hinblick auf die Rolle der Kunst in und für die Gesellschaft zu einem zentralen Begriff: Ohne Entfremdung gibt es keine Kunst, und letztlich verhindert nur die Kunst die totale Entfremdung.

In den 1960ern ist es ausgerechnet der kulturrevolutionäre Protest gegen die „soziale Kälte“ und „Verhärtung“ der bürgerlichen Gesellschaft, der die Ideologeme des flexibilisierten Kapitalismus 2.0 antizipiert. Damit wird einer neuen Art von Entfremdung der Boden bereitet, die sich nunmehr einer umgekehrten Metaphorik öffnet: Auf Kälte und Erstarrung folgen Verflüssigung, Aufbruch und Dynamik – die Entfremdung in der nunmehr auf Selbstoptimierung abzielenden Gesellschaft jedoch bleibt.

Antarktika blickt auf das der Entfremdung grundlegende Muster einer „Beziehung der Beziehungslosigkeit“ und spürt dem Begriff in seiner Aktualität sowie den daran geknüpften soziologischen Befunden in zahlreichen zeitgenössischen Werken nach. Angesprochen ist damit auch die Frage, welche anderen Formen des Welt- und Selbstbezugs es braucht, um überhaupt so etwas wie Raum für Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung zu schaffen.

Der Ausstellung vorgelagert ist ein Symposium zum Thema.