Das Vitra Design Museum zeigt mit der Ausstellung »Stühle der Macht« im Vitra Schaudepot, wie eng die Geschichte des Stuhls und des Sitzens seit jeher mit dem Ausdruck von Macht verbunden ist. Die Ursprünge des modernen Stuhls gehen auf Thronsitze der Antike zurück, und für lange Zeit waren Sessel und Stühle den Herrschern und der Oberschicht vorbehalten. Dies änderte sich erst langsam mit dem Entstehen eines Bürgertums in der Neuzeit. Mit dem Durchbruch der industriellen Möbelproduktion im 19. Jahrhundert wurden Stühle zwar endgültig für breitere Bevölkerungsschichten erschwinglich, doch ihre Verbindung zu Status und Macht ist bis heute offenkundig. Die Ausstellung »Stühle der Macht« untersucht diese Verbindung anhand von rund 20 ausgewählten Objekten aus der Museumssammlung und zeigt, wie sich Auffassungen von politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Macht bis heute in unseren Sitzgelegenheiten ausdrücken. So entsteht eine moderne Kulturgeschichte des Sitzens: von autoritär-patriarchalischen Machtverhältnissen bis hin zu Werten wie Demokratisierung und Teilhabe, von den verborgenen Sitzungszimmern in Politik und Wirtschaft bis hin zu demokratischen Parlamenten und Designern, die mit neuen Sitzentwürfen auch zu neuer Machtverteilung beitragen wollen.
Die frühesten Exponate sind Beispiele dafür, wie Sitzmöbel in Zusammenhang mit den eher traditionellen Auffassungen von politischer und religiöser Macht stehen. Ein Beispiel dafür ist die vom belgischen Hoftischler Jean-Joseph Chapuis gestaltete »Chaise de Garde« (ca. 1802), die auf die Stuhlformen der römischen Antike zurückgreift und von Napoleon Bonaparte für die Neugestaltung des Schlosses Laeken bei Brüssel bestellt wurde. Ebenfalls zu sehen ist ein Papstthron, der für den Besuch von Papst Johannes Paul II. in Zagreb im Jahr 1994 entworfen wurde. Die hohe gerade Rückenlehne sowie die rigide Sitzhaltung, die die Form des Throns vorschreibt, sind bis heute Symbole traditioneller Macht.
Die Ausstellung zeigt jedoch auch, wie sich die Demokratisierung vieler westlicher Gesellschaften hin zu Werten wie Flexibilität, Transparenz und Gleichberechtigung in den entsprechenden Sitzmöbeln und Sitzhaltungen spiegelte. So saßen John F. Kennedy und Richard Nixon in ihrem legendären Fernsehduell 1960 auf dem vom dänischen Designer Hans J. Wegner entworfenen Holzstuhl »JH501« (1949/50), der aufgrund seiner modernen und zugleich zurückhaltenden Formensprache geradezu idealtypisch für einen bescheideneren, volksnahen Politikstil stand. Noch weiter ging die holländische Designerin Hella Jongerius beim Entwurf eines Sessels für das UN-Hauptquartier in New York. Die bunten Stoffoberflächen und die niedrigen Rücken- und Armlehnen drücken Offenheit und Pluralität aus, die Rollen an den Hinterbeinen scheinen zu sagen: Veränderung ist wichtiger als das Beharren auf alten Werten. Bekannt wurde dieser »East River Chair« (2013/14), als Angela Merkel, Christine Lagarde und Ivanka Trump während einer Diskussion auf dem W-20-Frauengipfel in Berlin darauf saßen.
Auch jenseits der offiziellen Politik unterliegt der Ausdruck von Macht und Status im Sitzmöbeldesign einem ständigen Wandel der gesellschaftlichen Werte. So kamen im 19. Jahrhundert Schaukelstühle und Bequemlichkeitsmöbel in Mode, weil man damit zeigen wollte, dass man sich Freizeit leisten konnte. Ein Beispiel dafür ist in der Ausstellung der »Adjustable Chair« (1870/71) des amerikanischen Designers George Wilson, der mit seinen vielen Verstellmechanismen die Faszination für die heraufziehende Industriegesellschaft offenbart.
Im 20. Jahrhundert entstanden viele Designklassiker, die Macht und Autorität durch Bequemlichkeit und Großzügigkeit ausdrückten, etwa Ludwig Mies van der Rohes »Barcelona-Sessel«, der für den mondänen Deutschen Pavillon auf der Weltausstellung in Barcelona 1929 entstand, der »Lounge Chair« (1943-1956) von Charles & Ray Eames oder Arne Jacobsens »Ei-Sessel« (1957/58), der ursprünglich für die großzügige Lobby eines Luxushotels in Kopenhagen entworfen wurde und dort abgeschirmte Zonen für die ungestörte Konversation schaffen sollte. Auch viele Filme und Fernsehserien setzten Designikonen bewusst ein, um die Bedeutung ihrer Protagonisten in Szene zu setzen: So saß der Bösewicht in »James Bond – Der Spion, der mich liebte« auf dem »Elda Chair« (1963) des italienischen Designers Joe Colombo oder die bekannte Star-Trek-Figur Spock auf dem skulpturalen Sessel »Ribbon Chair« (1965) des französischen Designers Pierre Paulin.
Demgegenüber verfolgten Designer wie Enzo Mari eine andere Verbindung zwischen Macht und Sitzmöbel, etwa indem Mari mit seinem Stuhl »Autoprogettazione« (1974) ein völlig unprätentiöses Sitzmöbel zum Selberbauen gestaltete. Seit 2016 baut die Gruppe CUCULA in Berlin dieses Sitzmöbel gemeinsam mit Geflüchteten in Serie, um dadurch Arbeit und soziale Chancen zu schaffen: Hier geht es nicht um den Ausdruck der Macht in Form von Repräsentation oder Luxus, sondern um Design als Mittel zur Selbstermächtigung.
Ergänzend zu diesen und weiteren Beispielen für »Stühle der Macht« präsentiert die Ausstellung beeindruckende Fotografien von Räumen, in denen diese Möbel eingesetzt werden. Darunter sind Aufnahmen ikonischer Interieurs, etwa eines Königspalais im Empirestil in Brüssel oder des Glass House (1949) von Philip Johnson in New Canaan (USA), das den sogenannten Internationalen Stil als Vorbild für Bankenlobbys oder Anwaltskanzleien für Jahrzehnte etablierte. Dargestellt werden auf diesen Fotografien aber auch heutige Räume der Macht, vom Sitz der UNO-Vollversammlung in New York über Besprechungszimmer im deutschen Bundeskanzleramt bis hin zum Sitzungssaal im FIFA-Hauptquartier in Genf. Ob bunt und multikulturell, gediegen und zurückhaltend oder machtbewusst und einschüchternd – jeder dieser Räume zeigt, wie sich die Codes der Macht über die Zeit verändern und welche entscheidende Rolle Design dabei spielt, sie auszudrücken.