Künstlerische Interventionen schaffen neue Beziehungen in der Welt wie auch in der neuronalen Plastizität des Gehirns. Das ist die Macht der Kunst.
(Warren Neidich)
Digitale Technologien und Kommunikationsmedien bestimmen unser tägliches Leben – sie haben darüber hinaus grundsätzliche Veränderungen in den Bereichen Kunst, Ästhetik und Wahrnehmung herbeigeführt. Als Autor, Kunsttheoretiker und interdisziplinärer, postkonzeptueller Künstler beschäftigt sich Warren Neidich (*1958, New York) in seiner künstlerischen Praxis damit, wie die digitalen Möglichkeiten unsere Gewohnheiten, Wahrnehmungen und Vorstellungen verändern. Seine Ausstellung Neuromacht: Noise and the Possibility of a Future bei Priska Pasquer in Köln umfasst installative, skulpturale und performative Arbeiten in unterschiedlichen Medien wie Neon, Fotografie, Video, Klang und Malerei. Hier verbindet er seine Studien zu Kunst, Neurowissenschaft, Medizin und Architektur, um die Rolle von Technologien in der Formung des Gehirns, sowohl im repressiven wie auch im emanzipatorischen Sinne zu untersuchen.
Pizzagate (2017) ist eine große, dreidimensionale Neon-Skulptur in der Form einer iCloud, die diagrammatisch als Netzwerk aufgebaut ist. Sie greift eine Verschwörungstheorie gleichen Namens und ihre drastischen Konsequenzen während der letzten amerikanischen Präsidentschaftswahlkampagnen auf. Damals wurden absichtlich Fake News über einen angeblichen kinderpornographischen Ring im Keller einer häufig von Hillary Clinton und ihrem Team frequentierten Pizzeria lanciert. Dies zeigte nicht nur die Manipulierbarkeit von Nachrichten, sondern auch, wie leicht falsche Wahrnehmungen in unseren Gehirnen Pseudobedrohungen entstehen lassen können, obwohl keine wirkliche Bedrohung existiert. Fake News sind phatischer und generieren mehr Aufmerksamkeit als wirkliche Nachrichten. Neidich fragt daher: "Könnte es sein, dass das von ihnen produzierte Interesse, welches sich in hohen Klickraten und click baits (Klickködern) zeigt, materielle Folgen für die Struktur des Gehirns hat?"
Die beiden Klanginstallationen The Infinite Replay of One’s Own Self Destruction #1 und #2 (2014) bestehen aus kaputten Lautsprechern, die eine Kakophonie von Geräuschen wiedergeben. Der Künstler hat die Lautsprecher zerstört, die dabei entstandenen Geräusche aufgenommen und die Bruchstücke zu Skulpturen zusammengefügt. Durch den disruptiven Prozess kann der vorgeformte Raum als kompositionelle Plattform neu entstehen. Die Arbeiten verdeutlichen, wie unsere konditionierte sinnliche Aufnahmefähigkeit und Erwartung gestört und dadurch befreit werden kann. Neidich schafft hier eine dialektische Spannung. Auf der einen Seite des Spannungsbogens liegen die Bedingungen einer algorithmisch erzeugten technologischen Subsumtion mit ihren begrenzten Zukunftschancen und -risiken. Auf der anderen Seite befindet sich ein kulturelles Umfeld von ungeordneten und verfremdeten Geräuscheindrücken, in denen sich neue Wahrnehmungsmöglichkeiten auftun. Diese Arbeit knüpft sowohl an die Idee des Chaos und der Disharmonie der deutschen Philosophen der Romantik wie Novalis und Schlegel an, als auch an die auto-destruktive Kunst von Gustav Metzger.
In seiner performativen Arbeit Scoring the Tweet(s) (2017) verändert und re- arrangiert Neidich 195 Tweets von Donald Trump, die Fake News thematisieren. Mit Hilfe einer Cut-and-Paste-Methode gestaltet er eine musikalische Notation. Diese Methode illustriert die Unbestimmtheit der Sprache wie auch ihre tieferliegende Pluripotentialität. Sie wurde ursprünglich im Surrealismus entwickelt und später auch in den Arbeiten von William Burroughs eingesetzt. “Scoring the Tweet(s)” wird für seine musikalische Premiere bei PRISKA PASQUER erstmalig aufgebaut und am Abend des 12. Mai 2018 aufgeführt.
Die fotografische Serie Double Vision - Louse Point (1997-2000) wurde mithilfe von neuro-ophthalmologischen Geräten zur Beurteilung des Schielens erstellt, die der Kameralinse aufgesetzt wurden und so eine, wie Warren Neidich es nennt, hybride Dialektik erzeugen. Zwei parallele historische Materialbahnen verschmelzen auf der Oberfläche des neu entstandenen Bildes miteinander. Optische Signale prallen von ihrem gemeinsamen Raum ab und erzeugen eine Art visuelles Rauschen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Sehsinn berücksichtigend stellt Neidich Verbindungen zu künstlerischen Themen her, indem er die Horizontlinie betont oder auf den berühmten Treffpunkt abstrakter Expressionisten in East Hampton verweist.
Auch in den Wrong Rainbow Paintings (2012-14) sind Werke der Kunstgeschichte Referenzpunkte, nämlich historische Landschaftsgemälde, in denen die jeweiligen Künstler die Farben des Regenbogens absichtlich falsch wiedergegeben haben. Optische Phänomene wie Licht und Farbe spielen eine Rolle, sind aber der künstlerischen Vision untergeordnet, deren Beziehungssystem sich von der wissenschaftliche Methode unterscheidet.
Die Neonarbeit Double Sausage Tango (2018) basiert auf der Idee eines künstlichen neuronalen Netzes, das den Switch von einer schlaffen blauen Wurst zu einer Zwischenglieder verbunden, die aus Neonfundstücken gebildet werden.
Versteckte Verbindungen in artifiziellen neuronalen Netzwerken sind jene Orte, an denen verborgene Prozesse stattfinden. Die verwendeten Neonelemente wurden nicht zu diesem Zweck produziert, jedoch funktionieren sie an zwei Stellen als Hilfsmittel für neue Lösungen: einmal wenn der Künstler die Skulptur mit der Trial-and-Error-Methode schafft und zum zweiten Mal wenn der Betrachter die metaphorischen und narrativen Ebenen des Werks entschlüsselt. Die Entstehung des Kunstwerks integriert gefundene Objekte und den Zufall und verweist auf die Entwicklung künstlicher Intelligenz in Anlehnung an das Konzept des Homo poeticus, nicht aber des Homo symbolicus.
Warren Neidichs Untersuchungen sind größtenteils neuroästhetisch. Diesen Begriff prägte er 1995 für seine frühen Vorlesungen an der School of Visual Arts in New York und später für sein Journal of Neuroaesthetics. Neuroästhetik ist ein künstlerisches Forschungsfeld, in dem Sinneseindrücke, Wahrnehmung und Bewusstsein mithilfe von Techniken, Methoden, Geräten, Kritiken und der Geschichte von künstlerischer Produktion erforscht werden. Die Neuroästhetik entlarvt die Ungewissheiten der kognitiven Neurowissenschaft, um sie für neue Wahrheiten zu öffnen und die Formbarkeit des Gehirns zu verdeutlichen. Die Neuroästhetik geht davon aus, dass die Architektur des Gehirns Anpassungen und Veränderungen durchläuft, die zunächst im Umfeld künstlerischer Praxis auftreten und dann das Gehirn umstrukturieren. Das ist also die Macht der Kunst! Warren Neidich zufolge zelebriert sie die Plastizität des Gehirns und die Macht der Kultur, diese zu verändern. In seiner aktuellen Publikation Neuromacht (2017 hg.v. Merve Verlag), die auch titelgebend und grundlegend für diese Ausstellung ist, diskutiert er diese Ideen und legt die These dar, dass Kunst über die neuromodulare Macht und das emanzipatorische Potential verfügt, ein Gegenmodell zum globalen Kapitalismus zu sein. Durch die aktuellsten Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI), der Künstlichen Neuralen Netzwerke, der Kommunikation zwischen Maschinen (M2M) und der Gehirn-Computer-Interfaces wird uns zunehmend bewusst, dass die Verflechtung des Kapitalismus mit kognitiven Neurowissenschaften immer intensiver wird.
Jacques Rancières Aufteilung des Sinnlichen zufolge kontrolliert die Souveränität die Sinne, während Kunst und Gegenkultur diese Aufteilung in Frage stellen und umverteilen. Warren Neidich weitet dieses Konzept dahingehend aus, dass in der gegenwärtigen Gesellschaft diese neu verteilten und vernetzten Sinneseindrücke der wirklichen und der virtuellen Welt ebenfalls analoge Spuren in der neuralen Gehirnarchitektur produzieren. Das Gehirn ist nicht einfach etwas, das im Kopf durch den Schädel geformt wird, sondern eben auch durch die Welt und den Körper. Künstlerische Arbeiten sind das Ergebnis der sensiblen Beziehung zwischen der Gehirnaktivität, der kulturellen Evolution und dem kulturellen Gedächtnis. Die Bedeutung von Post-Kolonialismus, Feminismus, Gender- und Queer Studies als kulturelle Transformatoren, wie auch als Neuromodulatoren, ist seiner Meinung nach nicht zu unterschätzen, denn die konventionellen Strukturen und Wahrnehmungsbedingungen müssen destabilisiert oder zerstört werden. In seinen Werken findet Warren Neidich die Möglichkeiten, aufzuzeigen, mit welcher Wirkungsfähigkeit die Kunst Einfluss auf die Entwicklung und Emanzipation des menschlichen Gehirns nehmen kann.
Warren Neidich lebt und arbeitet in Los Angeles und Berlin, wo er seit 2016 an der Kunsthochschule Weißensee lehrt. 2014 gründete er in der Schweiz die Sommerakademie Saas-Fe Summer Institute of Art (SFSIA), die seit 2016 in Berlin ansässig ist. Seine Auszeichnungen und Stipendien umfassen u. a. den Villém Flusser Theory Award, die Transmediale in Berlin, das Künstlerhaus Bethanien, das AHRB/ACE Arts and Science Research Fellowship in Bristol, das British Academy Fellowship, das International Artist Studio Program in Schweden (IASPIS) und das Fulbright Scholar Program an der Amerikanischen Universität in Kairo. Neidichs umfangreiche internationale Einzel- und Gruppenausstellungen beinhalten: P.S.1, MoMA (New York), The Whitney Museum of American Art (New York), Museum Ludwig (Köln), ZKM (Karlsruhe), Haus der Kulturen der Welt (Berlin), Walker Art Center (Minneapolis), Los Angeles County Museum of Art (Los Angeles), LAXART und LACE (Los Angeles), Institute of Contemporary Art (Philadelphia), California Museum of Photography (Riverside), Manifesta 10 - Parallel Program (St. Petersburg), Astrup Fearnley Museum of Modern Art (Oslo), Kunstverein Rosa Luxemburg Platz (Berlin), Kunsthaus Graz, MAK (Wien).