In seiner Ausstellung in der Galerie Barbara Thumm widmet sich Diango Hernández mit Arbeiten aus den Jahren 2015 bis 2018 der beweglichen Kraft der Imagination, die sich untrennbar mit der Wahrnehmung von überlieferten Ereignissen verknüpft. Ausgehend von den historischen Entwicklungen seines Heimatlands Kuba untersucht er die möglichen Lesarten von Geschichte, die mittels Poesie und bildlicher Metaphern ihre statischen Deutungen verlieren und zu individuellen Erinnerungen werden können.
Das Verständnis von Geschichte als ein poetisches Bild, in dem imaginäre Gesten und emotionale Zustände eine veränderte Erfahrung der Realität herstellen, ist ein zentrales Thema in den Schriften von José Lezama Lima (1910– 1976), einem der bedeutendsten Dichter der modernen kubanischen Literatur. Dessen verkörperlichte und assozia- tive Sprache im Essayband Las Eras Imaginarias (1971) hat Diango Hernández seit mehreren Jahren studiert und sie wurde zur Inspirationsquelle für seine neuesten Bilder aus der Werkgruppe der Waves paintings (seit 2015). Sein Interesse gilt Lezama Limas Sprachbildern, die oft erst im Moment ihrer Erzeugung greifbar werden und Ideen und Allegorien aus unterschiedlichen Kulturen miteinander verweben. In seiner Konzeption der Imagination verstand Lezama Lima vergangene Zeiten als „imaginäre Epochen“ und wies auf die unabgeschlossenen Möglichkeiten („po- sibilidad infinita“) des karibischen Selbstverständnisses sowie von kultureller Zusammengehörigkeit an sich hin.
In den neuen Gemälden überführt Diango Hernández Auszüge aus den lyrischen Texten von José Lezama Lima in seine eigene bildnerische Sprache der Wellenlinien, die sich von der semantischen Bedeutung der Wörter löst und allein noch deren formale Längeneinheiten beibehält. Dabei befreien sich die Linien vom grafischen Satzaufbau und werden zu rhythmischen Kompositionen, die ein verflochtenes, vibrierendes Bild schaffen. Als abstrakte Dichtungen umfassen sie Übersetzungen einer intuitiven Erinnerung: In ihrer Farbigkeit und Konturierung rufen sie Sinnesein- drücke der karibischen Landschaft, des Meers, der Tiere, der Früchte und Pflanzenwelt auf. Ihre Heiterkeit wird jedoch durch die Rasterungen der Wellen stets wieder gebrochen, indem diese die rationale Ebene einer sprach- lichen Strukturierung und dadurch der Befähigung zu ideologischen Konstruktionen erkennen lassen.
In Kombination zu seinen Bildern zeigt Diango Hernández 20 gerahmte Zeichnungen des kubanischen Malers Augusto García Menocal (1899–1974), der aus einer Familie von Unabhängigkeitskämpfern gegen Spanien stammte und als wichtiger Vertreter der akademischen Kunst ab 1920 Honorarprofessor an der ältesten Kunstakademie in Havanna wurde. Die Skizzen stammen aus dem Besitz von Hernández’ Familie und sind Teil einer persönlichen Sammlung des Künstlers, die mit Gemälden, Artefakten und Dokumenten seine Erinnerungen an Kuba reflektieren. Menocals Studien halten in enzyklopädischer Weise die Stilformen der unterschiedlichen Kulturen der Welt fest, wo- bei die dargestellten Figuren in fiktiven Ausstattungen und Haltungen gezeigt werden. Mit ihrer Präsentation deutet Hernández auf die Wandelbarkeit der Geschichtsauffassung hin, die historische Fakten mittels fiktionaler Elemente interpretiert und an die nächste Generation weitergibt. Dies gilt auch für das berühmte Gemälde No quiero ir al cielo (1930) von Augusto García Menocal im Museo Nacional de Bellas Artes in Havanna, das Hatuey, den Anführer des indigenen Widerstands in Kuba von 1511/1512, kurz vor seiner Hinrichtung durch die Spanier zeigt. Als Sinnbild für die Geschichte der Kolonisierung der Karibikinseln wurde die Figur des indigenen Anführers seitdem als Held der Rebellion und Revolution je nach Staatsräson in Kuba für sich beansprucht und mit weiteren Narrationen ausge- stattet.
Auch in Arbeiten wie Hurricanes (2013), Mother we’ve got another open letter (2016) und Dos Hojas (2016), die wech- selseitige Bewegungen zwischen Zersetzung, Verflüssigung und Konservierung in abstrahierten Formen speichern, spannt Diango Hernández verschiedene Fäden der Erfahrung von Geschichte als imaginärer Konstruktion auf. Die Geschichte ist nie eindeutig verifizierbar und in einer eindimensionalen Weise zu lesen. Stattdessen bezieht sich der Künstler auf vergangene Zeitverläufe als dynamische Felder der Erinnerung, welche die Gegenwart und damit Identitäten neu beeinflussen und prägen können.