Im allgemeinen wird dieses einzigartige Orchester als das weltweit führende Jugendorchester angesehen, und es dürfte jedenfalls das wichtigste und nachhaltigste Vermächtnis eines wahrhaft visionären Künstlers sein: Claudio Abbado (1933-2014) war einer der bedeutendsten Dirigenten des 20. Jahrhunderts. Während seiner Zeit an der Wiener Staatsoper, deren Musikdirektor er von 1986 bis 1991 war, sah er den unglaublichen musikalischen Reichtum, dessen Wien sich rühmt, dessen Wurzeln aber nicht an den Grenzen Österreichs endete, sondern bis in die damaligen Nachbarstaaten Ungarn, Tschechoslowakei, Jugoslawien, bis nach Polen und zur damaligen Sowjetunion reichten. Junge Musiker aus diesen Ländern hatten jedoch keine Möglichkeit, ihren Kollegen aus Österreich zu begegnen, geschweige denn, gemeinsam mit ihnen zu musizieren.
Claudio Abbado hatte zeitlebens kein Verständnis für Bürokraten und reine Administratoren dies- und jenseits der Grenzen, und so gründete er gegen erhebliche logistische und politische Bedenken 1986/87 das Gustav Mahler Jugendorchester (GMJO) in Wien. Ursprünglich hat er es aus den genannten Gründen für Musiker aus Österreich und den Ostblock-Staaten gegründet, doch schon bald nach dem Ende des kommunistischen Systems wurde es für Musiker bis 26 Jahre aus ganz Europa zugänglich. Heute ist es das einzige Jugendorchester für ganz Europa; es steht seit 1991 unter dem Patronat des Europarates und ist seit 2012 Botschafter UNICEF Österreich.
Von Anbeginn konzipierte Claudio Abbado, der in seiner humanistischen Vision ebenso wie im Streben nach höchsten musikalischen Standards völlig kompromißlos war, dieses Orchester als eine veritable Elite-Institution: jährliche Live-Probespiele in allen Mitgliedsländern und eine besonders gründliche Probenarbeit in allen Orchester-Gruppen unter der Anleitung professioneller Orchestermusiker der Wiener und Berliner Philharmoniker (Abbado war 1989 als Nachfolger Herbert von Karajans zum Chefdirigenten des Berliner Philharmonischen Orchesters gewählt worden) sollten ein hohes technisches und musikalisches Niveau sicherstellen, das das GMJO bis heute von allen anderen Jugendorchestern unterscheidet.
Claudio Abbado, der bis zu seinem Tode 2014 Musikdirektor des GMJO war, dirigierte die ersten Orchesterprojekte – aber er lud sofort auch seine berühmtesten Dirigenten-Kollegen ein, mit „seinem“ GMJO zu arbeiten. Er wollte unbedingt, daß das GMJO fortbestehen sollte, falls er es eines Tages nicht mehr würde betreuen können. Bis heute arbeiten alle großen Dirigenten unserer Zeit regelmäßig mit dem GMJO, von Pierre Boulez über Herbert Blomstedt, Sir Colin Davis, Iván Fischer, Bernard Haitink, Mariss Jansons, Seiji Ozawa, Antonio Pappano und Franz Welser-Möst bis hin zu den herausragenden Dirigenten der jüngeren Generation – David Afkham, Daniel Harding, Philippe Jordan, Vladimir Jurowski oder zuletzt der shooting star Lorenzo Viotti. Zahlreiche Solisten von Rang: Sänger, Pianisten, Geiger und viele andere tun es ihnen gleich und erleben jene einzigartige musikalische und menschliche Atmosphäre, die das GMJO auszeichnet.
Seit vielen Jahren ist das Gustav Mahler Jugendorchester ständiger Gast bei den führenden Konzerthäusern und Festivals auf der ganzen Welt, so etwa den Salzburger Festspielen, dem Edinburgh und Lucerne Festival oder den BBC Proms, der Suntory Hall Tokio, dem Concertgebouw Amsterdam, der Elbphilharmonie Hamburg, der neuen architektonischen Ikone, oder dem Wiener Musikverein. Es hat Opernproduktionen realisiert und ausgedehnte Tourneen nach Nord-, Mittel- und Südamerika, in den Nahen und in den Fernen Osten unternommen.
All diese Veranstalter und Festivals laden das GMJO ein, in denselben Konzertreihen wie die berühmtesten Profi-Orchester der Welt aufzutreten. Folglich wird es auch nur selten mit anderen Jugendorchestern verglichen, obgleich es sich wie diese alljährlich durch Probenspiele neu zusammenzusetzt. Es gilt nicht, wie andere Jugendorchester, als reines Projekt- oder Trainings-Orchester, und die Fachpresse rühmt stets seinen besonderen Streicherklang ebenso wie die musikalische Reife seiner Auftritte: „Sie deklassiert vieles, [...] was bei den boomenden Tourneen diverser Jugendorchester zum Besten gegeben wird. Das Mahler-Orchester hat sich in zwei Jahrzehnten zur Kaderschmiede europäischer Spitzenensembles von den [Wiener] Philharmonikern bis zum Concertgebouw entwickelt. Aufführungen von solch hintergründiger Stimmigkeit [...] tragen zum Erhalt einer europäischen Spieltradition unschätzbar viel bei.“ (Die Presse, 2009)
Für professionelle Orchester gilt das Gustav Mahler Jugendorchester als wichtigster „Nachwuchs-Lieferant“, daher finden sich heute zahlreiche ehemalige Mitglieder in führenden Orchestern in ganz Europa. Claudio Abbados andere Orchestergründungen, das Mahler Chamber Orchestra, das Lucerne Festival Orchestra und das Orchestra Mozart, haben sich bei Gründung zu großen Teilen aus Mitgliedern des GMJO zusammengesetzt, und beispielsweise die Wiener und Berliner Philharmoniker vereinen heute zusammen über 40 Ehemalige des GMJO in ihren Reihen. Aus diesem Grund begründete auch die renommierte Staatskapelle Dresden, eines der ältesten und berühmtesten Orchester der Welt, im Jahr 2012 eine enge Zusammenarbeit mit dem GMJO.
Sogar programmatisch unterscheidet sich das Gustav Mahler Jugendorchester von allen anderen Jugendorchestern: auf Basis einer sorgfältig konzipierten Dramaturgie sind seine Konzert-Programme stets zugleich bereichernd und fordernd, und bloßer Mainstream oder leichte Berieselung haben darin keinen Platz; vielmehr belegen zahlreiche Auftragsvergaben an und Erstaufführungen von Werken lebender Komponisten seine absolute Sonderstellung.
Auf die oft gestellte Frage, was für ihn das Besondere an diesem Orchester sei, antwortete Claudio Abbado stets, daß er von jungen Musikern, die keine Begrenztheiten kennen und vom Alltag in einem professionellen Orchester noch unbeeindruckt sind, die miteinander musizieren und dabei aufeinander hören wollen, unendlich viel lerne. Dies veranlasse ihn zum Nachdenken über seine Art des Musizierens, und neben der schieren Freude profitiere er von ihnen ebenso wie sie von ihm.
Gleiches gilt für alle Gastkünstler, die, einmal mit der Magie dieses Orchesters, das sich stets neu erschafft, in Berührung gekommen, allesamt zurückkehren, so oft es ihnen möglich ist – wohlgemerkt, aus pädagogischen, musikalischen und humanistischen, nicht aber aus finanziellen Gründen: so wie die Orchestermusiker für ihre Teilnahme nicht bezahlt werden, so stellen auch die eingeladenen Künstler einen großen Teil ihres Honorars dem Orchester zur Verfügung. Im GMJO geht es um das gemeinsame Musizieren und Erleben, Bürokratentum, Starallüren und Eitelkeiten sind fehl am Platze.
Die Geschichte des Gustav Mahler Jugendorchesters, Claudio Abbados Vermächtnis, ist eine Erfolgsgeschichte, eine Geschichte des ständigen Strebens nach Qualität, bestmöglicher Orchesterausbildung und idealer Proben- und Aufführungs-Bedingungen – und sie ist zugleich die Geschichte des andauernden Bemühens um dessen Finanzierung: im 31. Jahr seines Bestehens ist das GMJO mehr denn je auf die Unterstützung der öffentlichen Hand, seiner Sponsoren und Mäzene angewiesen, die durch ihren Beitrag und ihre Investition in die nächste Generation sicherstellen, daß wir unser kulturelles Erbe auch in Zukunft bewahren können.
Text von Alexander Meraviglia-Crivelli