Als ich Kind war, haben wir uns in meiner Schule, so wie in fast jeder Schule in Buenos Aires, als Personen aus dem 18. Jahrhundert verkleidet und gemeinsam mit den Eltern und den Lehrern den Tag der Unabhängigkeit gefeiert. Wir hatten verschiedenste Kostüme und wenn ich heute daran denke, waren interessanterweise viele davon Kleidungstücke, die die „negros“, Menschen afroamerikanischer Herkunft, präsentierten. Und das, obwohl nicht ein Kind in meiner Schule, ja eigentlich keiner in der ganzen Stadt, sichtbar afroamerikanischer Abstammung war. In der Schule aber malten wir uns die Gesichter mit Kohle an und verkörperten einen Teil Gesellschaft von dem es keine Spuren mehr zu geben schien. In meiner Klasse existierte nicht ein Hinweis auf die afroamerikanische Vergangenheit der Gesellschaft. Alle meine Mitschüler kamen aus europäischen Einwandererfamilien, deshalb behalfen wir uns mit einem verkohlten Korken.
Wie konnte das sein? Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kamen die Afroamerikaner als Sklaven nach Argentinien und Mitte des neunzehnten Jahrhunderts machten sie fast dreißig Prozent der Bevölkerung von Buenos Aires aus. Es war die Epoche als Präsident Manuel de Rosas sie unterstütze, natürlich auch um seinen politischen Nutzen daraus zu ziehen. Bis 1840 wurde der Sklavenhandel abgeschafft und 1853 wurde das auch in der Verfassung verankert.
Die Sprache und Musik der Afroamerikaner hatten auch einen großen kulturellen und musikalischen Einfluss auf die argentinische Kultur, der bis heute zu spüren ist. Die Afroamerikaner tanzten zum Rhythmus von Candombe und Milonga. Damals wurde der Tanz, bei dem man sich umarmte und der als zu sinnlich galt, zensiert und verboten oder nur an nicht öffentlichen Orten zugelassen. Er wurde in sehr einfachen Häusern mit strohbedecktem Dach getanzt, in denen der sandige Boden zum Tanzen präpariert war. Man traf sich in Gruppen, die sich „naciones“ nannten und in denen es einen „König“ und eine „Königin“ gab, die während der Veranstaltung auf einem Thron saßen und von wo aus sie wichtige Gäste empfingen. Auch Rosas war oft einer von ihnen. (Der Maler Martín Boneo zeigt das sehr gut in seinem Werk: Candombe Federal, 1836).
Auf meinem Gesicht spüre ich noch immer das Gefühl des kratzigen Korkens und des Verschmierens der Kohle. Das was in meiner Schule ziemlich klar war, war die Tatsache, dass, so wie der Tanz der Afroamerikaner damals verboten war, das Verbot weitergeführt wurde in dem, was sich später Tango nannte. Nie haben wir in der Schule Tango getanzt, sondern wir haben spanisches Menuett oder andere Rhythmen aus der spanischen Kolonialzeit getanzt, um die Gesellschaft aus dem 19. Jahrhundert mit Einfluss der spanischen Krone zu repräsentieren.
Ein Überbleibsel der Idee des Tanzes mit afroamerikanischen Wurzeln als „sündige“ und verbotenen Sache, hat sich immer in den Schulen gehalten. Im Unterrichtsfach „Musik und künstlerischer Ausdruck“ haben wir alle Rhythmen der argentinischen Folklore, wie Chacarera, Zamba, Gato und mehr gesungen und getanzt, aber niemals Tango. Das ist bis heute so.
Gleichzeitig war in meiner Kindheit ganz klar, dass in dem Moment, in dem wir die Schule verließen und am Kiosk vorbeiliefen, Tango zu hören war. In der Autowerkstatt meines Nachbarn war Tango zu hören. Im Frisörsalon meines Onkels Cholo. Er öffnete am Morgen seine Ladentür, schaltete das Tangoradio an, machte sich Mate und schaltete es erst am Abend wieder ab. Auch meine Mutter schaltete ihr Tangoradio– und tut das bis heute–morgens an, nachdem sie aufgestanden war und schaltet es erst wieder aus, bevor sie zu Bett geht.
Dieser Einfluss der Afroamerikaner auf die argentinische Kultur verschwand Ende des 19. Jahrhunderts und wurde in einem Moment der Geschichte fast vernichtet. Bis 1880, nach der Präsidentschaft von Sarmiento (1868-1874) sank der Anteil der afroamerikanischen Bevölkerung von 30% auf 1,5%. In dieser Zeit gab es zwei Ereignisse, die das Massensterben der Afroamerikaner verursachte: Der Paraguayische Krieg (1864-1870) und die Gelbfieber-Epidemie in Buenos Aires (1871).
Bis 1880 starb ein Großteil der afroamerikanischen Bevölkerungsschicht, aber sie haben ihre Musik, ihren sinnlichen Tanz in der Umarmung und ihren Anteil zum Dialekt von Buenos Aires, aus dem sich später der Lunfardo entwickelte, in der Gesellschaft hinterlassen. Von ihnen stammen Ausdrücke wie: Mucama, Bochinche, dengue, mondongo, quilombo, marote, catinga, tamango, mandinga, Candombe und Milonga.
1880 lag die Einwohnerzahl von Buenos Aires bei ungefähr 200.000 Einwohnern, 1910 waren es schon 1.200.000. Die Immigranten kamen. Italiener, Spanier, Deutsche, Griechen, Armenier. Man kann sagen, dass man in Buenos Aires Vertreter aus fast allen europäischen Ländern fand. 1885 kam, mit 25 Jahren, Luiggi Monti aus Italien nach Buenos Aires, mein Großvater. Er kam, wie viele andere Tausende und Abertausende von europäischen Einwanderern, auf der Suche nach einem besseren Leben, nach einer Zukunft für seine ungeborenen Kinder, nach Nahrungsmitteln für seine Familie, nach einem Stück Land, um sein Haus darauf bauen zu können.
Jeder der Immigranten brachte einen Teil seiner Kultur mit sich und Luiggi Monti brachte die Musik mit. Fast alle Söhne von Luiggi Monti waren später Musiker. Aus musikalischer Sicht begannen sich in dieser Zeit alle Rhythmen in einem Schmelztiegel der Kulturen zu vereinen. Damals wuchs auch die Anzahl an einschlägen öffentlichen Häusern, denn die Mehrheit der Einwanderer waren alleinstehende Männer, die Grund und Boden suchten, um ihre Familien nachzuholen. Es gab kaum Frauen und der Kontakt mit dem anderen Geschlecht fand vor allem in diesen öffentlichen Etablissements statt. Habanera, Polka, Corrido, Vals und Chotis haben sich dort viele Nächte denselben Raum geteilt. Die italienische Lyrik und Canzonetta hatten auch ihren Anteil an der musikalischen Fusion in dieser Epoche.
Wer hat bei diesen Tanzveranstaltungen die Musik gespielt? Manchmal bildeten sich spontan Duos, Trios oder sogar kleine improvisierte Orchester. Diejenigen, die Instrumente hatten und irgendetwas zu spielen wussten, taten sich zusammen. Viele von ihnen waren Analphabeten, die keine Noten oder Partituren lesen konnten und nach Gehör und aus der Erinnerung spielten. Aus diesem Grund ist es auch schwer die Entstehung der ersten Tangos nachzuverfolgen, weil es niemanden gegeben hat, der sie aufschrieb. Trotzdem wird vermutet, dass der erste weit verbreitete und dokumentierte Tango El Queco war. Queco war damals ein anderes Wort für Bordell.
Viele der Tangos waren sehr versiert, andere kamen direkt von der Straße und erzählten von irgendeinem aktuellen Ereignis. Das zum Beispiel war ganz typisch für den andalusischen Tango. Weil der Tango argentino aus den ärmsten Gegenden von Río de la Plata kam und als ein kühner, fast wagemutiger, ja sogar als obszöner und amoralischer Tanz galt, lehnte die obere Gesellschaftskritik den Tango ab und es war verboten diese Musik zu hören oder zu tanzen.
Als die Zeit begann, in der Männer und Frauen anfingen zusammen Tango zu tanzen, galt er als Anstiftung zu Lust und bis Anfang des 20. Jahrhunderts musste man ihn irgendwo im Verborgenen tanzen. Die konservative Oberschicht sah den Tango als „vulgär“ an, am Rande der Gesellschaft, nur gemacht für Sinnlichkeit und Genuss. Am Ende des 19. Jahrhunderts kam der Tango in Buenos Aires aus dem Dunkeln ins Licht und meine Familiengeschichte begann im wohlhabenden Argentinien mit der Immigration von Luiggi Monti.
Dieser Artikel wurde von Corinna Wolfien übersetzt