Vert, der Titel der aktuellen Ausstellung, entspringt nicht etwa dem Gebiet des Künstlerisch-Imaginären, als Verweis auf das Grüne in Anspielung auf die Landschaft, das mit dem Interieur von David Schnell favorisierte Sujet. Nein, „vert" ist ein ganz profaner Ausdruck aus dem Bereich der Extremsportarten: Er bezeichnet die herausfordernden Varianten etwa des Skateboard- oder BMX-Sports auf Halfpipes, den halbrunden Rampen.
Geschwindigkeit, Wagemut, Bewegungen – Assoziationen, die mit „vert" in Verbindung gebracht werden können, aber die sich nicht unbedingt mit Malerei einstellen, einem eher langsamen Medium, das zumeist Ruhe und Kontemplation beim Produzenten ebenso wie beim Rezipienten einfordert.
Und dennoch ist es ein höchst passender Begriff für diese Ausstellung. Denn „vert" steht nicht nur für eine BMX-Disziplin, der sich auch der Künstler in jüngeren Jahren gewidmet hat, sondern als englische Verkürzung von „vertical" verweist es auf eine der strukturellen Hauptmerkmale der Malerei des Leipziger Künstlers: So unterschiedlich die Motive oder Formate seiner Gemälde auch sein mögen, auch bei älteren Werken, sie eint sehr häufig eine starke strukturelle und formale Tendenz zum Vertikalen, ein Höhenzug, der bisweilen das Irdische mit dem Himmlischen zu verbinden scheint und eines der durchgängigen Konstruktionsprinzipien seiner Malerei bezeichnet.
David Schnells Malerei erzeugt bei aller Ruhe und Ausgeglichenheit der Komposition, häufig bestimmt durch eine starke Zentralperspektive, das Gefühl in das Bild hereingezogen zu werden. Wie auf einer Rampe stehen die Betrachterinnen und Betrachter vor einigen Gemälden Schnells, imaginär im Begriff sich in das Bild zu stürzen. So etwa bei dem großformatigen, von Blau- und Grüntönen bestimmten Landschaftsbild Downtown. Die Malerei öffnet sich wie ein Fenster zu einem dynamisierten Bildraum. Die Überblicksperspektive und die gestaffelte Setzung von vertikalen, sich nach hinten verjüngenden Farbflächen reißen die Betrachter mit sich im Sturzflug auf den mittig angesetzten Horizont. „Vert" könnte hier auch für „Vertigo" stehen, Schwindel mag einen beim längeren Schauen auf diese Landschaft überkommen. Die geometrischen Formen verdichten sich farblich nach oben und nach unten; das Wechselspiel von abstrahiert-kontrollierten ‚Stalagmiten' und ‚Stalagtiten' dominiert den Mittelteil des Bildes und erzeugt so eine starke Fernwirkung. Beim näheren Hinsehen scheint hinter der Abstraktion die Ahnung einer Landschaft auf ohne konkret bestimmbar und greifbar zu sein, vielleicht eher eine Idee von Landschaft, durchzogen von Farbflecken, Tropfen und zerfließenden Farben. Ein Hauch von organischen Formen, wie zufällig gesetzt. Sie wollen sich den klaren Kanten der pixelgleichen Farbflächen mit ihrer künstlerisch behaupteten Natürlichkeit widersetzen.
Fahrten durch eine kulturell geprägte Landschaft gehörten ebenso zu David Schnells Inspirationen wie grafisch schlecht aufgelöste, frühe Computerspiele. Jede Landschaft ist Konstrukt und Kultur, ist Arbeit an der Natur. Selten wird sie in ihrem Kern so klar aufgefasst wie bei David Schnell. In seiner Malerei scheint sich ein Abwägen zwischen der Nachahmung von konstruierter Natürlichkeit auf der einen Seite und der rational-regelhaften Komposition der pixelartigen Abstraktion auf der anderen Seite zu vollziehen. Er baut seine Landschaftsbilder durch tektonisch gesetzte Flächen und erinnert damit an den Beginn des modernen Landschaftsbildes bei Paul Cézanne, der seine Ansichten der südfranzösischen Landschaften aus reduzierten Formen und Farbflächen abstrahierend zusammenfügte.
David Schnell betätigt sich parallel an verschiedenen Leinwänden, lässt sie auch eine Weile stehen und setzt dann später seine Arbeit wieder fort, um sie eventuell zu verändern und dem ursprünglichen künstlerischen Problem auf eine neue Weise zu begegnen. Die Gemälde sind aber nie Materialschlachten. Der Künstler trägt seine Farben lasierend auf, so dass die helle Leinwand oder auch ältere Farbschichten von hinten noch durchscheinen und den Gemälden eine eigene Leuchtkraft verleihen. Die Farben werden nicht höher und höher geschichtet, sondern bleiben zuerst Fläche und Farbe, sie wirken bisweilen fast immateriell. Auch hier werden Assoziationen an ältere Künstler der Kunstgeschichte geweckt, etwa wenn man an die Stadtansichten und Innenräume Lyonel Feiningers denkt, dessen kristallin anmutenden, ebenfalls lasierend gesetzten Farbflächen dem Bild eine inhärente Ausstrahlung geben, als seien sie aus Licht gemalt.
Infolge seines Romaufenthalts 2013 als Stipendiat der Villa Massimo fing David Schnell an Kircheninnenräume zu malen. Sie bezeugen seine Auseinandersetzung mit den inszenatorischen Techniken der barocken Architektur, dem illusionistischen Formen- und Lichtspiel des Raumes als Bühne. Auch in dieser Ausstellung greift er den Themenkomplex der sakralen Innenräume in drei Bildern wieder auf. In drei unterschiedlichen Farbskalen, mal mit dominierendem Grau, mal in Blau, mal mit Rottönen gemalt, wendet sich Schnell den intimeren Innenansichten im Kontrast zu den weiten Landschaftsbildern zu. Der narrative Bezug zum Objekt spielt hier keine Rolle. Die entfernte Wiedererkennbarkeit eines Raumes, des Kirchenraumes, dient eher als Einstieg ins Bild, als Anker, um auf dem Weg der Augen durch die Farbkaskaden Halt und Orientierung zu bieten. Menschenleer, wie bei allen Bildern Schnells, konzentriert er sich hier ganz auf die Illusion von Raum und die perspektivische Staffelung unterschiedlicher Farbflächen. Während die kleineren Formate konzentrierte Intimität vermitteln, wirken die großformatigen Bilder fast monumental als wollten sie den Betrachter umfassen. Der Raum erscheint durch die unzähligen Wiederholungen der Flächen endlos, in kubistischer Anmutung hat er das Kirchenmobiliar und die Architektur radikal reduziert, zu Grundformen systematisiert, visuell dekonstruiert, verschiedene Fluchtpunkte und Perspektiven eingesetzt, Fragmente wiederholt. Der vertikale Zug der Farbflächen vermittelt zudem den Eindruck, als wendeten sie sich vom Irdischen ab. Eine Anregung zur Kontemplation?
David Schnells Gemälde erinnern in ihrer Lichtwirkung, dem Eindruck von transluziden Reflektionen und den abstrahierten Formen entfernt, an Glasmalerei. Die Arbeit mit Glasbildern ist ihm nicht fremd: So schuf er 2009 für die Leipziger Thomaskirche das Friedensfenster und entwirft im Augenblick für die Kölner Christuskirche neue Glasfenster. Aber seine Bilder sind weniger Ausdruck religiöser Andacht, er verzichtet bewusst auf jegliche Narration. Seine Malerei vermittelt den Glauben an die Kraft der Farbe und des Lichtes, es ist konzentrierte Kunst, die entgegen der sportlichen Bedeutung des Titels vert Ruhe, eventuell auch Achtsamkeit ob der Malerei einfordert. Und damit ist vielleicht ein anderer Punkt im Werk des Leipziger Malers zu erkennen, nämlich dass eine am Anfang gesetzte Systematik wieder verlassen wird und zum Gegenteil verkehrt wird – wo der Titel Schnelligkeit verspricht, kann die Malerei mit Bedachtsamkeit überzeugen.