Erstmals stehen Kunstwerke aus Ozeanien im Zentrum einer Ausstellung des Martin-Gropius-Bau. Sie kommen aus einem Gebiet am Mittel- und Unterlauf des Flusses Sepik in Papua-Neuguinea. Etwa 220 Kunstwerke von zwölf Leihgebern – die bedeutendsten Museen Europas sind beteiligt – werden zu sehen sein. Die Ästhetik der Kunst der Sepikregion hat schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts europäische Wissenschaftler und Künstler fasziniert. Berlin war mit Basel ein Zentrum der Sepik-Forschung. Zwar sprachen ethnologische Entdecker früh von „Kunst des Sepik“, doch die Kunstwelt war zurückhaltend, formulierte eher Theorien des „‚Primitivismus‘ – noch bis weit in die 1980er Jahre. Die große Ausstellung „‚Primitivism‘ in 20th Century Art – Affinity of the Tribal and the Modern“(1984) des Museum of Modern Art in New York erinnerte an diese lange Diskussion. Heute ist es selbstverständlich, jene als ‚primitivistisch‘ deklarierten Kunstwerke, so auch die der Sepikregion, aus ihrer eigenen ästhetischen Qualität heraus zu betrachten und zu beurteilen. Dazu bietet diese Ausstellung Gelegenheit.
Die Sepikebene ist ein großes Wasser- und Sumpf-Gebiet. Entlang des Sepik, der sich über fast 1.200 Kilometer erstreckt, leben Gruppen von Menschen, die über hundert verschiedene Sprachen sprechen. Allein am Mittel- und Unterlauf des Sepik werden über neunzig verschiedene Sprachen gesprochen. Man darf sich also die Region des Sepik nicht als ein relativ homogenes Siedlungsgebiet vorstellen. Kaum war der Sepik entdeckt, der dann 1886 von den deutschen Kolonisatoren „Kaiserin Augusta-Fluss“ genannt wurde und nach damaliger Nomenklatur in die Bismarck-See mündete, erregte die höchst elaboriert gestaltete materielle Kultur die Aufmerksamkeit von Sammlern und Museumsleuten aus aller Welt.
Die Taten der Ahnen haben die Welt der Menschen geschaffen. Ihre Verwandlungen manifestieren sich in der Umwelt und in den kulturellen Zeugnissen. Die Ahnen, so denkt man, haben das breite Flussbecken des Sepik geschaffen, auf dessen Uferdämmen die Wohnhäuser und die Männerhäuser stehen. Von zentraler Bedeutung sind die Tanzplätze vor den Männerhäusern; auf ihnen treten die Ahnenfiguren auf und erinnern an die Taten der mythischen Zeit. Die Tänzer verkörpern mit ihrem reichen Schmuck und ihren farbenprächtigen Maskenfiguren diese Ahnen und werden eins mit ihnen.
Beim Durchschreiten verschiedener ‚Räume‘ eines Dorfes spiegelt deren Ordnung die soziale Organisation wider: eine deutliche Trennung zwischen der Welt der Frauen und derjenigen der Männer, zwischen einer öffentlichen Sphäre, wo jeder frei ist, sich zu bewegen, und einer Sphäre, die den initiierten Männern vorbehalten ist. Die Frauen sind innerhalb des Dorfes vor allem den Wohnhäusern zugeordnet, die Gegenstände sind sichtbar. Die Männer hingegen sind auf die großen Männerhäuser und die Tanzplätze ausgerichtet. Die Gegenstände sind verborgen und geheim und werden nur bei den Riten sichtbar.
Im Vordergrund der hier gezeigten Auswahl an ethnologischer Kunst steht auch deshalb das Motiv der menschlichen Figur, die allen Kulturen gemeinsam ist: der oder die Gründer-Ahnen von Siedlungen, menschlichen Gemeinschaften und ihrer natürlichen Umwelt. In den Gesellschaften des Sepik zeigt sich diese Ahnenfigur nicht unmittelbar. Sie entschlüsselt sich immer nur stückweise in ihrer ganzen Komplexität. Der Verlauf der Ausstellung wird den Besuchern erlauben, die unterschiedlichen Formen und Variationen zu verstehen, unter denen sich diese Ahnenfiguren manifestieren, beginnend mit ihren mehr öffentlichen Formen bis hin zu jenen eher geheimen.
Die Werke faszinieren wegen ihrer überaus reichen Verzierung auf kleinen und großen Gegenständen und durch die Vermischung der in Europa strikt getrennten Gattungen (Malerei, Skulptur) des Gestaltens: Eine Kombinationen von Skulpturen in Menschenform und Oberflächenverzierung, von Ornamenten auf Palmblattstielen und Zeremonialhäusern, von modellierter, figürlich ausgestalteter Keramik, genutzt zur Aufbewahrung oder Zubereitung von Nahrungsmitteln.
Zu sehen ist ein großes Auslegerboot und ein Einbaum, reich verzierte Pfosten von Männerhäusern, gewaltige Schlitztrommeln, kräftige Ahnenfiguren und prächtig geschmückte Maskengestalten. Die Flussebene ist ein Mosaik von linguistischen Gruppen. Die etwa neunzig Sprachen erklären zu einem Teil auch die Verschiedenheit der hergestellten Objekte. Neben den Reichtum an Riten tritt eine bemerkenswerte Fülle von Objekten, deren formale Gestaltung häufig überraschend, faszinierend und exotisch wirkt.
Der Sepik war lange Zeit von den europäischen, amerikanischen und australischen Entdeckern und Reisenden übersehen worden. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde seine Mündung entdeckt und der Fluss von einem deutschen Schiff („Ottilie“) befahren. Es sollte jedoch noch Jahre dauern, bis wissenschaftliche Expeditionen organisiert wurden. Vor allem große deutsche Institutionen bereiteten Forschungsreisen vor, so von Hamburg aus 1909 und von Berlin aus 1912-13. Das damalige Königliche Museum für Völkerkunde in Berlin richtete eine umfassende interdisziplinäre Expedition aus, deren Ergebnisse teilweise erst heute veröffentlicht werden können. Einer der Protagonisten dieser Forschungen entdeckte die Quellen des Sepik-Flusses, als schon der Erste Weltkrieg 1914 auch in der Südsee ausgebrochen war. Australien eroberte und übernahm 1914 die deutsche Kolonie „Deutsch-Neuguinea“ (1899-1914).
Diese Ausstellung, hundert Jahre nach jener Berliner Expedition veranstaltet, leistet einen wichtigen Beitrag, auch dieses große Berliner Unternehmen ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken, denn erst seit dieser mehrjährigen Expedition ist das Sepikgebiet eine der bedeutendsten Regionen der ethnographischen und wissenschaftlichen Forschungen in der Südsee geworden.
Schon 1911 erkannte ein Berliner Museumsmitarbeiter den außerordentlich hohen ästhetischen Wert der Schnitzwerke vom Sepik. In der Folge haben zahlreiche Sammler aus der ganzen Welt diese Werke auf den immer abenteuerlichen Reisen auf dem Fluss und seinen zahlreichen Nebenarmen eingetauscht und erworben. Bald wurden die Masken, Figuren und Malereien Teil der Kunstgalerien, die in den zwanziger Jahren in Europa und später auch in Amerika die Kunst der „Primitiven“ neben der Kunst der Moderne anboten. Die Schnitzwerke vom Sepik waren so Teil des Bildinventars, das den Künstlern der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Verfügung stand. Sie waren aber auch Anlass für zahlreiche weitere Forschungen, die im Verlauf dieses Jahrhunderts noch stattfinden sollten, um nähere Auskünfte über die Bedeutung und Ikonographie von Objekten zu erhalten. Die Ausstellung zeigt eine Synthese dieses Kunstgebietes, die auch die Forschungsreisen der letzten fünfzig Jahre auswertet.