Im Frühjahr 2020 präsentiert der Gropius Bau eine Übersicht über Lee Mingweis (*1964, Taiwan) Arbeiten der letzten drei Jahrzehnte. Die Ausstellung 禮 Li, Geschenke und Rituale beleuchtet das Werk des Künstlers aus einer neuen Perspektive: als Erkundung der Fähigkeit von Kunst, als transformatives Geschenk zu wirken, das im Raum der intimen Erfahrung und Begegnung mit anderen wurzelt. Zugleich verbindet Lees Perspektive die verschiedenen Kulturen, die seine künstlerische Praxis prägen. Diese Sichtweise geht auf einen der wichtigsten Einflüsse des Künstlers zurück, das konfuzianische Prinzip des li (禮). Li ist ein vielschichtiger Begriff, der Vorstellungen von Riten, Ritualen, Gaben und Anstandsregeln umfasst – ein philosophisches Gerüst für menschliches Verhalten.
Anstatt Lee Mingweis Praxis wie allgemein üblich als Teil der Tradition partizipatorischer Kunst aufzufassen, verortet die Ausstellung den Ausgangspunkt seiner Arbeiten in Traditionen des Schenkens und Ritualen des Empfangens, auch wenn seine Projekte Freiwillige einbeziehen und zur Beteiligung einladen. Sie wirft damit die Frage auf, wie Austausch außerhalb der Grenzen kapitalistischer Strukturen stattfinden kann und in welchem Spannungsverhältnis die Normen der unterschiedlichen Kulturen stehen, die Lees Arbeiten beeinflussen. 禮 Li, Geschenke und Rituale zeigt, in welcher Weise die Kombination von ästhetischen und philosophischen Konzepten des Schenkens aus östlichen und westlichen Traditionen das Werk des Künstlers prägt.
Lee Mingweis Installationen und Performances bewegen sich häufig innerhalb einer Logik des materiellen Austauschs und loten zugleich deren Grenzen aus, indem sie immaterielle Gaben in den Fokus rücken. Über die Verbindung zwischen dem Prinzip des li und seinem Werk sagt der Künstler: „Ich sehe meine Arbeiten auch als Praxis, das Geschenk des Gesangs, das Geschenk der Kontemplation oder das Geschenk des Austauschs mit Unbekannten zu teilen.“
Die Ausstellung, die sich über das gesamte Erdgeschoss des Gropius Bau erstreckt, präsentiert Arbeiten aus den frühen 1990er Jahren bis heute. Sie versammelt 14 bestehende Projekte sowie eine neue, speziell für die Ausstellung konzipierte Arbeit.
Im Lichthof des Gropius Bau zeigt Lee Mingwei eine monumentale Version der Installation Guernica in Sand (2006/2020). Als Hommage an Pablo Picassos Guernica, eine der Ikonen der westlichen Moderne, stellt Lee die Motive Trauma und Trauer in Sand dar. Diese Materialwahl entspricht der tibetisch-buddhistischen Praxis des Sand-Mandalas, präzise und detaillierte Sandmalereien, die nach ihrer Fertigstellung weggefegt werden. Im Einklang mit dieser Tradition sind Besucher*innen am Samstag, den 2. Mai 2020, eingeladen, barfuß über den Sand zu gehen. So wird das ursprüngliche Bild auf behutsame Weise verändert, bevor der Künstler und drei Mitwirkende in einem Ritual der Transformation die Sandmalerei mit Besen verwischen.
Neben der einmaligen Performance von Guernica in Sand werden während der gesamten Ausstellungslaufzeit Arbeiten aktiviert. Das Projekt Sonic Blossom (2013/2020) mit täglich auftretenden Opernsänger*innen geht auf Lee Mingweis Kindheit zurück, in der er mit seiner Mutter die Lieder Franz Schuberts hörte; als er ihr diese während ihrer Genesung nach einer Operation vorspielte, spürten beide die tröststliche Wirkung der Musik. Our Labyrinth (2015/2020) ist wiederum von den demütigen Ritualen des Fegens heiliger Räume inspiriert, die Lee Mingwei in den Pagoden, Tempeln und Moscheen in Myanmar beobachtete.
Die neue, von Lee Mingwei für den Gropius Bau konzipierte Arbeit Our Peaceable Kingdom (2020) steht mit zwei zentralen Konzepten in Zusammenhang: zum einen mit der kontinuierlichen Auseinandersetzung des Künstlers mit dem Begriff des Friedens in der heutigen Zeit; zum anderen mit der klassischen – sowohl im westlichen als auch im östlichen Kanon existierenden – Vorstellung, die Kunst der Malerei sei von Meisterinnen zu lernen. Ausgangspunkt seiner Arbeit im Gropius Bau ist das Schaffen des amerikanischen Malers Edward Hicks: Im Laufe seines Lebens kam Hicks in seiner Bilderserie Peaceable Kingdom immer wieder auf das Motiv des Friedens zurück; 62 Versionen davon sind heute in öffentlichen und privaten Sammlungen erhalten. Hicks war bekennender Quäker, und so ist sein von Jesaja 11: 6–8 inspiriertes Bild eine Vision des Friedens auf Erden, in der Menschen und Tiere in Harmonie miteinander leben. Der Tradition folgend, durch das Kopieren von Lehrerinnen zu Meisterinnen zu werden, lädt Lee 11 Malerinnen ein, Hicks’ Peaceable Kingdom (ca. 1833) zu kopieren. Diese fordern im Anschluss weitere Künstlerinnen auf, eine Kopie ihrer Version der Arbeit zu erstellen. Während sie ihre eigene Vision von Frieden in ihre Bilder einfließen lassen, wurden alle Malerinnen darüber hinaus dazu eingeladen, auch einen Text über Frieden einzureichen. Die Installation Our Peaceable Kingdom wird letztlich 27 Gemälde neben einem Original von Edward Hicks aus dem Worcester Art Museum umfassen.
Bereits im Herbst 2019 veröffentlichte Lee Mingwei drei Open Calls, um das Publikum in seine Projekte einzubeziehen und institutionelle Prozesse herauszufordern. Für die Arbeiten The Mending Project (2009/2020), Fabric of Memory (2006/2020) und The Living Room (2000/2020) suchte der Künstler nach Freiwilligen für Flickarbeiten, guten Gesprächspartnerinnen, textilen Erinnerungsstücken mit emotionalem Wert und Menschen mit einzigartigen Sammlungen, die diese gerne anderen präsentieren möchten. Der Künstler öffnet seine Projekte für das Berliner Publikum, indem er diese Freiwilligen, ihre Geschichten und Objekte in seine Ausstellung aufnimmt und sie wiederum bittet, als Gastgeberinnen für andere Ausstellungsbesucherinnen aufzutreten. The Mending Project ist inspiriert von der meditativen Wirkung des Flickens, die Lee während des Wartens auf Nachricht, ob sein Partner die Angriffe auf das World Trade Center am 11. September 2001 überlebt hatte, erfuhr. Für das Ritual der Instandsetzung lädt der Künstler die Öffentlichkeit ein, Kleidungsstücke mitzubringen, die der Ausbesserung bedürfen; der Künstler selbst oder freiwillige Näherinnen werden diese Stücke flicken und sich dabei mit den Besucherinnen austauschen. Wenn die jeweiligen Besitzerinnen zustimmen, bleiben die Objekte für die gesamte Dauer der Ausstellung im Gropius Bau und setzen sich zu einer ständig wachsenden Installation aus Kleidungsstücken zusammen, die über Fäden mit Spulen an der Wand befestigt sind.
Lee Mingweis Installationen und Performances entspringen häufig sehr persönlichen Begegnungen, die er mit langsamer Präzision zu Kunstwerken entwickelt. So ist The Sleeping Project (2000/2020) von einer Begegnung in einem Nachtzug inspiriert. Im Gespräch mit seinem Mitreisendem, einem älteren polnischen Mann, erfuhr Lee, dass dieser nach Prag reiste, um eine Entschädigung für seine Internierung in einem Konzentrationslager zu erhalten. Berührt von dem intimen Austausch mit einem völlig Fremden, geht Lee Mingwei der Frage nach, ob eine Kunstinstitution einen Raum für emotionale Verbindungen bieten kann und ob diese Art von Gesprächen vielleicht nur nachts möglich ist. Im Rahmen einer Lotterie werden Personen ausgelost, an The Sleeping Project teilzunehmen und zusammen mit dem Künstler oder einem Mitarbeitenden des Gropius Bau eine Nacht in der Ausstellung zu verbringen.
Arbeiten wie The Mending Project stehen in engem Zusammenhang mit zentralen Themen des kuratorischen Programms des Gropius Bau 2020. Insbesondere Fragen nach Fürsorge und Reparatur stehen im Einklang mit der bewegten Geschichte des Gebäudes und seiner langen Renovierung, in deren Rahmen bewusst sichtbare Spuren des Kriegstraumas erhalten wurden.
Lee Mingwei nähert sich den Themen Fürsorge und Reparatur auf faszinierende Weise. Diese beiden Konzepte sind für das Programm des Gropius Bau von zentraler Bedeutung. Das Gebäude wurde bei Bombenangriffen während des zweiten Weltkriegs stark zerstört und architektonisch so restauriert, dass seine Verletzungen und der Prozess der Instandsetzung spürbar bleiben. Das Gebäude legt Zeugnis davon ab, dass Verletzungen und Traumata Teil seiner und damit unser aller Geschichte(n) sind. In Lee Mingweis Arbeiten gibt es unzählige Rituale der Reparatur; sein Fokus liegt auf der Möglichkeit der Transformation.
(Stephanie Rosenthal, Direktorin des Gropius Bau und Kuratorin der Ausstellung)