Die Galerie Peter Kilchmann freut sich, das neue Ausstellungsjahr in der Galerie an der Zahnradstrasse mit der Gruppenausstellung Shifting (Verschiebung) zu eröffnen, die sich mit Aspekten der Abgrenzung, Entgrenzung oder Auflösung von Grenzen beschäftigt. Dieses Phänomen bezieht sich in verschiedenen Kontexten - auf globaler, gesellschaftlicher, individueller und konzeptueller Ebene - auf einen Prozess, der dazu führt, dass zuvor gültige Grenzen verschwimmen oder potenziell verschwinden. Gleichzeitig beschreibt dieser Begriff einen Zustand, in dem Schranken durch Fortschritt verschoben werden: Diese Verschiebungen können zur Hinwendung zum Unterbewussten, zu Entwürfen von neuen Konzepten von Gesellschaft, Identität und Geschlecht führen. Sieben Künstler-innen stehen im Fokus dieser Gruppenschau, die durch ihre gezeigten Arbeiten Strategien entwickeln, um diesen Akt der Verschiebung zu beschreiben, zu befragen und in ihre unterschiedlichen Medien zu übersetzen. Werke von Maja Bajević, Travis Boyer, Fabian Marti, Kenrick McFarlane und Paul Mpagi Sepuya befinden sich im Dialog. Hinzu kommen zwei neue Positionen: Tobias Spichtig und Christine Streuli. Beide bieten einen kleinen Vorgeschmack auf ihre geplanten Einzelausstellungen in diesem Jahr.
Maja Bajević (g. 1967, Sarajevo, Bosnien und Herzegowina; lebt und arbeitet in Paris) ist in der Ausstellung mit den zwei Stickereien Facts and figures, 2024 (95 x 130 cm) und Facts and figures, 2024 (95 x 170 cm) vertreten. Diese Textilarbeiten gehen auf eine frühere Arbeit, Arts, crafts and facts, zurück, die erstmals für die 56. Biennale von Venedig 2015 produziert wurde. Der Titel Facts and figures bezieht sich auf die statistischen Daten, die Quellen für diese Werke und das Wort Figure weist in die Richtung der Darstellung der Frau. Mit den gestickten Diagrammen bespricht Maja Bajević durch diese Werkgruppe das Lohngefälle zwischen Frauen und Männern in Europa. Bewusst verschiebt sie die faktischen Diagramme auf liebliche Blumenmuster, die mehr an Innenräume erinnern, statt an nüchterne Zahlenerhebung. Eine zweite Verschiebung findet durch die Verwendung von Augmented reality statt, wodurch die Statistiken im digitalen Raum in Bewegungen gesetzt werden.
Travis Boyer (g. 1979, Fort Worth, Texas; lebt und arbeitet in New York City) ist bekannt für seine farbintensiven und sinnlich anmutenden Malereien, die durch den Auftrag von Farbstoffen auf Seidensamt entstehen. Durch seine sorgfältig entwickelte Technik - der Künstler bearbeitet jeweils den Samtträger beidseitig - schafft er die charakteristische Tiefe, erzeugt die betörenden Farbnuancen und die unverwechselbare Reflexion der Gemälde. Der Künstler greift auf eine Vielzahl von Popkultur-Referenzen und Themen des queeren Diskurses zurück und überführt diese in seine Arbeiten. Mit Hilfe der Aneignung von Hairstyling-Methoden formt und gestaltet Boyer die weiche Textur des Samts. Seine Motive findet er in seinem Alltag wieder und sie haben oftmals eine sexuelle Konnotation inne: Die gemalten Früchte, Pflanzen oder Gegenstände erinnern an Körperstrukturen, an phallische Formen. Der Künstler spielt somit bewusst mit der Haptik der Arbeiten und provoziert den Wunsch der BetrachterInnen, die Werke anzufassen. Travis Boyer wird im Juni eine Einzelausstellung an der Rämistrasse ausrichten.
Fabian Marti (g. 1979, Fribourg, Schweiz; lebt und arbeite in Paris und Murten) hat für Shifting Werke geschaffen, die sich mit dem Vater- und Kindsein auseinandersetzen – einem Zustand, in dem Kreativität und Ausdruck frei und ungehindert fliessen können. Fünf aus der Wand ragende Flachskulpturen aus Messing, Such a good boy (je 1000 x 770 x 6 mm), zeigen die Silhouette seines Sohnes, der an einem Bein in die Luft gehoben wird und kopfüber in die gegenübergestellten Malereien mit Titeln wie Lullaby essentials (Happy doggosaurus, 100 x 80 cm) oder Lullaby essentials (Dream feed II, 50 x 50 cm) eintaucht – einen Diskurs über neue Perspektiven startend. In den Messingskulpturen sind Handabdrücke vom Künstler und seinem Sohn eingelassen, die durch ein Ätzverfahren mit Zitronensaftkonzentrat entstanden sind. Die Malereien zeigen fantasievolle, abstrakte Bilder, die die Vorstellungskraft von Kindern ansprechen könnten. Sie sind inspiriert von Schlafliedern, Träumen und der Fantasie der Kindheit. Mit seinem Werk fordert der Künstler das Publikum auf, über traditionelle Schaffensweisen, gängige Austauschformen und sogar den Status des Künstlers nachzudenken und diese neu zu hinterfragen.
Kenrick McFarlane (g. 1990 Chicago, USA; lebt und arbeitet in Paris und Los Angeles) steuert vier Gemälde zur Ausstellung bei, die sich auf die schwarze Porträtmalerei konzentrieren. In diesen Werken untersucht der Künstler die komplexe Erfahrung angeeigneter kultureller und persönlicher Identitäten sowie die Ambivalenz soziokultureller Zwänge. Mit kunsthistorischen Referenzen von deutschen Expressionisten über den britischen Maler Francis Bacon bis hin zu Porträts kontroverser Rap-Künstler wie dem haitianischamerikanischen Kodak Black verbindet McFarlane verschiedene Kulturen und Ästhetiken aus unterschiedlichen Epochen, um einen Dialog über Performance und Befreiung zu schaffen. Seine Darstellung eines nackten Mannes, der scheinbar ein Ritual vollzieht, verweist auf das karibische Junkanoo-Festival, eine ursprünglich westafrikanische Tradition, die sich während der transatlantischen Sklaverei zu einer modernen Voodoo-Praxis entwickelte. Der britische Musiker Benjamin Clementine, ein vielseitiger Künstler und Zeitgenosse McFarlanes, der in London und Paris lebt, inspirierte ihn bei der Entstehung dieser neuen Werkreihe. McFarlane stellt letztlich die Frage, ob Clementines Biografie ein Beispiel dafür ist, dass sich das Werk eines Künstlers verbessert, wenn er sich frei oder gezwungenermassen an neue kulturelle Einflüsse und Umstände anpasst.
Paul Mpagi Sepuya (g. 1982 in San Bernardini, CA; lebt und arbeitet in Los Angeles) stellt in seinen drei gezeigten seriellen Werken das Fragment in der Studiofotografie in den Fokus, betont aber weiterhin die Überschneidungen von kulturellen Identitäten, Geschlecht und Begehren in der Geschichte der Porträtfotografie. Die Bruchstücke - die fragmentierten Gliedmassen, verborgenen Gesichtszüge und unsicheren Beziehungen zwischen Körperteilen - sind bewusst vom Künstler gewählt. Durch die Fragmente möchte er nicht weniger, sondern mehr zeigen, die Studiosituation sichtbarer machen, die Betrachtenden miteinbeziehen und neue Perspektiven aufzeigen. Mit Mirror study (0X5A4261), 2019 (127 x 190.5 cm) ist beispielsweise ein Selbstporträt einer Kamera in der Galerie zu sehen: Der Künstler hat FotografieAusschnitte splitterartig an einen Spiegel geklebt und fotografiert. Körperfragmente lösen sich beinahe im Roten-Violetten Licht auf, verschwimmen. Die Kamera ist stehts präsent, ist Akteur und Motiv zugleich.
Tobias Spichtig (g. 1982, Sembach, Schweiz; lebt und arbeitet in Zürich und Berlin) präsentiert in der Galerie eine neue Malerei sowie die Skulptur mit dem Titel Calla und Max (2020, 137 x 170 x 100 cm). Der Künstler malt seine Porträts in harten, reduzierten Linien, anonymisiert die dargestellten Figuren und verleiht ihnen eine hagere, langgestreckte Erscheinung. Ihre obsessiven, zugleich wunderschön und unheimlich gemalten Zügen, erzeugen eine Atmosphäre, die zwischen Mystik, subtiler Unbehaglichkeit und Bewunderung oszilliert. In bewusster Abkehr von künstlerischen Konventionen kombiniert Spichtig Goth-Ästhetik, Referenzen aus dem sakralen Raum und kunsthistorische Anspielungen, wodurch er eine spürbare Dissonanz erzeugt. Auf den ersten Blick erinnern die Werke an Gemälde der 1950er Jahre oder an Pop-Porträts, doch entwickeln sie eine eigenständige Form und einen persönlichen Stil. Für seine Skulpturen verwendet der Künstler Second-HandKleidung, häufig von Freunden, die er in Harz taucht und gelegentlich mit Nickel oder anderen Metallen überzieht, wie bei Calla and Max zu sehen ist. Spichtigs Herangehensweise an die Skulptur hat eine gewisse existenzialistische Qualität inne, ähnlich den filigranen und ausgemergelten Werken von Alberto Giacometti. Im Gegensatz zu Giacomettis Figuren, die als distanzierte Wanderer erscheinen, treten Spichtigs Skulpturen jedoch als radikal präsente Geister in Erscheinung. Tobias Spichtigs erste Einzelausstellung in der Galerie wird im Juni an der Zahnradstrasse eröffnet.
Christine Streuli (g. 1975 in Bern, Schweiz; lebt und arbeitet in Berlin) ist derzeit im Haus Konstruktiv (Zürich) mit einer monumentalen Installation vertreten, die ihre unverkennbare Handschrift trägt: Die Künstlerin ist bekannt für ihre All-over-Malereien – grossformatige, farbintensive und ornamentale Werke, die häufig die Wände der Ausstellungsräume miteinbeziehen. Ihre Arbeiten wirken wie farbliche Manifestationen, die verschiedene kulturelle Einflüsse aufnehmen und transformieren. Für die Ausstellung Shifting hat Christine Streuli neue Leinwandarbeiten geschaffen, die sich inhaltlich mit der Dekonstruktion von Max Bills Werk auseinandersetzen. Die prägnanten geometrischen Farbflächen und schwarzen Linien – ob senkrecht, waagerecht oder diagonal – werden von Streuli adaptiert, neu interpretiert, um die Grundlagen geometrischer Abstraktion neu zu formulieren. In ihrem Ansatz verschwimmen die Grenzen zwischen präziser Linienführung und zufälliger Formentstehung. Beide Elemente – das Geplante und das Zufällige – verschmelzen in ihrer Malerei und gehen nahtlos ineinander über. Der Künstlerin gelingt es, mit dieser Balance eine visuelle Dynamik zu schaffen, die das Publikum in ihren Bann zieht. Von Christine Streuli, wird im September eine Einzelausstellung an der Zahnradstrasse zu sehen sein.