Als die Stadt Berlin sich 1987 anschickte ihr 750-jähriges Bestehen zu feiern, kamen in der Stadtmitte mehrere große Baustellen zum Abschluss. Im Mai etwa wurde das wiedererrichtete Nikolaiviertel mitsamt der rekonstruierten Nikolaikirche der Öffentlichkeit übergeben. Die Rekonstruktion des historischen Altstadtviertels am Spreeufer hatte mehrere Jahre in Anspruch genommen. Im Wettbewerb zwischen Ost und West um das „wahre Berlin“ hatte die SED den Fokus trotz knapper Ressourcen auf den Wiederaufbau des historischen Stadtkerns gelegt. Zum Höhepunkt der Festlichkeiten zog am 4. Juli 1987 ein zehn Kilometer langer Festumzug mit rund 43.000 Mitwirkenden durch das Ost-Berliner Zentrum und an einer Tribüne mit SEDFunktionären und Ehrengästen vorbei. Rund 300 ausgewählte Episoden der Berliner Stadtgeschichte wurden szenisch nachgestellt und die Errungenschaften des realen Sozialismus gefeiert. Der Umzug spiegelte sowohl die selektive Haltung der SED-Führung zur deutschen Geschichte als auch eine Wahrnehmungsverweigerung der krisenhaften Gegenwart wider. Doch die Agonie war schon spürbar. Nur drei Jahre später war die DDR selbst Geschichte.

Berlin-Ost/West-Berlin 1985-87 von Seiichi Furuya ist eine Projektion mit 690 Bildern, größtenteils in Schwarz-weiß, manchmal auch in Farbe. Die Abfolge der Bilder ist zufällig und setzt sich immer anders zusammen. Der Großteil der Bilder wurde im vergangenen Jahr zum ersten Mal gezeigt. Die Bilder, die Seiichi Furuya im Umfeld der 750-Jahr-Feierlichkeiten und auf anderen Volksfesten dieser Zeit aufgenommen hat, sind Aufnahmen eines Beobachters. Sein Motiv: ein riesiges absurdes Geschichtstheater. Mit einem LKW-Oldtimer wird „Aktivisten der ersten Stunde“ gehuldigt, eine Gruppe von Tanzmariechen wartet Unter den Linden auf ihren Auftritt, ein Banner mit der Aufschrift „Berlin – Zentrum der deutschen Linken“ wird auf der Höhe des Zeughauses in Mitte über die Straße getragen, Jungpioniere mit Trompeten, FDJler im Blauhemd mit roten Fahnen, ein Spielmannszug vor dem Roten Rathaus in Uniformen, die an den historischen Rotfrontkämpferbund erinnern. Furuya, der zwischen 1984 und 1987 in der DDR lebte, fotografierte sowohl die Darbietungen auf den Bühnen und Straßen wie auch das Publikum. Da sind staunende Kinder und wenig enthusiastische Erwachsene zu sehen. Auffällig unauffällig stehen da oft auch grimmig dreinschauende Männer und Frauen am Rand. Das müssen wohl die wachsamen Mitarbeiter der Staatssicherheit in Zivil gewesen sein.

Architektur zieht sich wie ein roter Faden durch die Bilder Furuyas. Zu den Ost-Berliner Prestigebauten jener Zeit gehörte auch das Grand hotel an der Friedrichstraße Ecke Behrenstraße, welches am 1. August 1987 in Betrieb genommen wurde. Die postmoderne Interpretation klassizistischer Repräsentationsarchitektur wurde vom DDR-Generalbaudirektor Erhardt Gißke und dem japanischen Baukonsortium Kajima Corporation projektiert. Furuya arbeitete als Übersetzer für das Unternehmen. Ins Bild kommen auch Plattenbauten, ebenso wie der Palast der Republik, die Volksbühne oder das Kino International. Auch die Berliner Mauer, das absurdeste Bauwerk des 20. Jahrhunderts, fotografiert Furuya öfters. Er nimmt sie von beiden Seiten auf. Fotografien von der Westseite Berlins speist er in seine Erzählung ein. So wird das Bild der Stadt vollständig.

Er hätte damals eigentlich nur für sich fotografiert, erzählte Furuya einmal in einem Interview. „Gegen das Vergessen. Denn wenn ich zurückdenke und da ist ein Loch in meiner Erinnerung, dann habe ich ein ungutes Gefühl. Also muss ich mein Leben dokumentieren. Ich finde, das ist meine vordringlichste Aufgabe.“ Die Seltsamkeiten des DDR-Alltags jener Jahre werden durch Furuyas Kamera mit einer gewissen Kühle und Distanz, jedoch gänzlich ohne Arroganz registriert. Was mag das wohl sein, das „wahre Berlin“? Ein Phantom, ein flüchtiger Mythos und ein ewiges Puzzle. Furuya ist es gelungen, sich mit der Kamera dem Geist Berlins Mitte der 1980er-Jahre zu nähern. In seinen Bildern blitzt er kurz auf, bevor er wieder im Sturm der Geschichte verschwindet.

(Text von Kito Nedo)