Ich kann einfach nicht pünktlich sein!
Unpünktlich ist ja jeder immer mal wieder.
- Weil der Zug verspätet kam oder auf der Autobahn ganz viele das gleiche Ziel hatten..
- Weil man die Zeit schlicht vergaß.
- Weil der Traum so spannend war, dass man den Wecker überhörte.
- Und es gibt noch viele andere Gründe.
Aber es gibt ja nun Leute – die kommen fast immer zu spät. Egal zu welcher Uhrzeit. Egal wozu man sich verabredet hat: Meeting, Abendessen, Kinobesuch. Das kann schon keien Zufall mehr sein, sondern dahinter steckt Methode. Aber welche? Was bei meinem Klienten dahintersteckte, erfahren Sie in diesem Fallbericht aus meiner Coachingpraxis.
Fragt man jemanden, wie er es anstellt, immer so unpünktlich zu sein, erntet man nur Kopfschütteln und die empörte Antwort: „Ich mache das doch nicht. Ich will ja pünktlich sein – aber es kommt mir was dazwischen.“
In meinen Coachings will ich also mit dem Klienten gemeinsam herausfinden, was da dazwischen kommt und wie er sich von seinem Vorhaben, pünktlich zu sein, abhalten lässt. Denn das weiß der Klient nicht, weil es fast immer ein unbewusster Vorgang, meistens ein innerer Konflikt ist, der dahintersteckt.
Solche Verhaltensweisen wie Unpünktlichkeit sind auch deshalb so schwer zu verändern, weil man gar nicht weiß, wo man ansetzen soll. Viele greifen dann zu entsprechenden Tipps und Ratschlägen von Freunden oder aus Büchern. Die sind zwar meistens vernünftig und richtig, aber für den Klienten trotzdem nutzlos. Warum?
Weil die fragliche Verhaltensweise – hier also die Unpünktlichkeit - gar nicht das Problem ist, sondern die Lösung. Eine Lösung nicht für die aktuelle Situation, da stört sie. Aber es ist eine gute Lösung für einen inneren Konflikt dieses Menschen. Diesen Zusammenhang will ich hier erläutern.
Wer oft unpünktlich ist, drückt damit seinen Protest aus. „Dass ich sogar bei Ihnen heute zehn Minuten zu spät gekommen bin, erschüttert mich“, sagte Melanie C. 36 Jahre, Verkäuferin in einem Modegeschäft. „Denn der Termin ist mir superwichtig, ich verstehe nicht, wie ich es geschafft habe, sogar hier bei Ihnen zu spät zu kommen. „Das passiert mir im Job auch öfters. Egal, um welchen Termin es sich handelt, ich komme fast immer zu spät. So kann das nicht weitergehen, denn irgendwann fliege ich ort daus!“
Seltsamerweise lächelte die Klientin, als sie das sagte. Sie war also nicht nur betroffen und erschrocken, das unpassende Lächeln war ein Fingerzeig, dass es wohl noch um etwas anderes dabei ging.
„Wie haben Sie das denn heute hingekriegt, dass Sie zehn Minuten zu spät sind?“, wollte ich von der Klientin wissen. „Ich hab das nicht hingekriegt. Es ist mir einfach passiert – und es tut mir leid“, protestierte sie. „Wie groß ist denn im Durchschnitt Ihre Verspätung?“ fragte ich. „Komische Frage, aber ich schätze, es sind es immer um die zehn höchstens mal fünfzehn Minuten. Ich glaube, ich habe einfach kein gutes Zeitmanagement.“
„Hmm, ich glaube, Sie haben ein sehr gutes Zeitmanagement. Denn Sie schaffen es ja regelmäßig, dass Sie nicht zur vereinbarten Zeit da sind. Und Sie haben auch einen engen Bereich, den Sie zu zuverlässig zu spät kommen.“ Die Klientin schaute mich etwas verwirrt an: „Verstehe ich nicht. Wieso habe ich ein gutes Zeitmanagement?“ “ „Na ja, Sie kriegen es immer wieder hin, dass Sie genau zehn bis fünfzehn Minuten zu spät sind. Nicht mehr, nicht weniger. Und auch dass bloß nicht zur vereinbarten Zeit da sind. Sie sind eigentlich pünktlich unpünktlich.“
Wenn wir bestimmte störende Gewohnheiten ändern wollen, helfen Informationen, auch wenn sie vernünftig klingen und richtig sind, selten weiter. Wollen wir ungünstige Gewohnheiten ändern, ist es meistens notwendig, herauszufinden, welche Funktion dieses Verhalten für uns bis jetzt hat. Also welchen Nutzen dieses Verhalten für uns hat. Weil dieser Nutzen dem Betreffenden aber in der Regel unbewusst ist, kommt er von allein nicht darauf.
Deswegen bilde ich in meinem 3-h-Coaching Hypothesen, welchen Nutzen das unerwünschte Verhalten im Leben des Klienten haben könnte. Dazu brauche ich etliche Informationen aus der Herkunftsfamilie der Klientin.
„War denn Pünktlichkeit ein Thema bei Ihnen zuhause?“, fragte ich. „Das war sehr wichtig bei uns. Meine Mutter war Buchhalterin und absolute Genauigkeit war ihre Passion. Dazu gehörte auch die Pünktlichkeit. Jeden Abend um sieben war Abendessen. Und wer nur eine Minute zu spät kam, bekam nichts zu essen und wurde auf sein Zimmer geschickt. Schrecklich war das! Selbst in den Ferien gab es einen straffen Zeitplan, wann wir aufstehen, frühstücken und Hausarbeiten erledigen mussten. Ich habe es gehasst!“
Wenn Menschen längere Zeit miteinander Zeit verbringen, bilden sich automatisch gewisse Regeln heraus, die das Zusammenleben vereinfachen sollen. Damit jeder weiß, woran er sich zu halten hat. Einige Regeln werden richtig verkündet, doch manche werden gar nicht ausgesprochen. Die Menschen leben diese Regeln.
Auch in Familien gibt es diese Regeln. Es zeigt die Werte, die für besonders wichtig gehalten werden. Solche Regeln gehen zum Beispiel darum:
- Was Geld ist, was man damit machen kann und was nicht.
- Wie wichtig Ordnung und Struktur sind und was das Gegenteil ist.
- Wer welche Gefühle haben darf und ob das wichtig ist oder überflüssig.
- Wer die Kontrolle über das Geld hat, wofür es ausgegeben wird.
- Was in verschiedenen Situationen „richtig“ oder „falsch“ ist.
In der Familie von Melanie C. war also strenge Pünktlichkeit fast schon ein Gesetz, das von allen rigide beachtet werden musste. Regeln gehen uns in Fleisch und Blut über, weil wir in der Kindheit täglich damit zu tun haben und ihnen nicht ausweichen können. Deswegen übernehmen wir sie oft unbewusst in unser Erwachsenenleben. Oder wir rebellieren dagegen, wie die Klietin in diesem Fall.
Mir war aufgefallen, dass Melanie ziemlich schlank war und ich fragte mich, ob das irgendwie auch zum Thema Pünktlichkeit gehörte. Also fragte ich Melanie C.: „Sie sind sehr schlank. Wie machen Sie das?“ „Jedenfalls nicht mit einer Diät. Meine Freundinnen machen sich deshalb auch schon Sorgen um mich und fragen, ob ich vielleicht magersüchtig sei. Bei uns zu Hause musste immer alles aufgegessen werden, was man auf den Teller bekam. Das habe ich auch nicht leiden können. Aber heute vergesse ich das Essen einfach manchmal.“ „Wie bitte? Sie vergessen zu essen?“, forschte ich nach. „Na ja, nicht wirklich vergessen, aber wenn ich Hunger bekomme, beachte ich dieses Signal auf meinem Körper nicht. Ja, es stört mich geradezu. Vor allem, wenn ich an einer wichtigen Aufgabe sitze, will ich das nicht mit Essen unterbrechen. Und so kommt es, dass mir manchmal erst abends auffällt, dass ich außer einem Tee am Morgen und viel Wasser und vielleicht einem Apfel nichts gegessen habe.“
Ich fand dieses Verhalten und die Schilderung der Klientin höchst aufschlussreich. Meine Vermutung ging in die Richtung, dass ihr ihre Unabhängigkeit sehr wichtig sein musste und sie deshalb sogar ihrem eigenen Hungergefühl nicht nachgeben wollte.
Es war Zeit, mit einem Experiment in Achtsamkeit den möglichen inneren Konflikt, der hier eine wichtige Rolle spielte, zu identifizieren und erfahrbar zu machen. Nachdem die Klientin. es sich in ihrem Sessel bequem gemacht und die Augen geschlossen hatte, sagte ich zu ihr: „Ich bitte Sie, mal den Satz zu sagen: »Mein Leben gehört mir«.“ Die Reaktion von Melanie C. kam sofort. Sie schrie fast: „Jawoll! Endlich gehört mein Leben mi! Und nur mir und niemand sonst.
Die Sätze, mit denen ich im 3-h-Coaching arbeite, sind stets positiv und beschreiben Tatsachen oder sind einfach wahr. Erlebt ein Klient eine eher abwehrende innere Reaktion , also Anspannung, Trauer, oder Skepsis, zeigt das, dass der Satz für den Klienten vielleicht rational stimmt – aber nicht emotional. Melanie C. zeigte jetzt aber eine sehr enthusiastische Reaktion. Und dafür gilt dasselbe Prinzip. Denn hätte ich sie eine andere Tatsachen sagen lassen, also zum Beispiel den Satz „Heute ist Dienstag“ wäre ihre Reaktion eher neutrale Zustimmung gewesen, „Ja, stimmt.“ Ohne Enthusiasmus. Aber die Klientin hatte auf den Satz „Mein Leben gehört mir“ reagiert, als wäre das eine tolle Neuigkeit, was es wohl auch war.. „Hört sich so an, als wären Sie über den Satz total begeistert“, sagte ich. „Ja, das ist ein toller Satz. Den muss ich mir aufschreiben.“ Ich gab zu bedenken:„Aber der Satz ist doch eine Tatsache. Ihr Leben gehört Ihnen. Mein Leben gehört mir. Das eigene Leben gehört einem doch immer.“ An dieser Stelle begann Melanie C. zu weinen. „Für mich ist das nochgar nicht so lange eine Tatsache. Eigentlich erst, seitdem ich von zuhause ausgezogen bin und mein eigenes Geld verdiene.“ „Also nicht mehr von Ihren Eltern speziell Ihrer Mutter abhängig sind“, vermutete ich. Jetzt wollte ich die verschiedenen Inhalte, die ich von de Klienten gehört hatte, zusammensetzen. Ihr „pünktliches“ Zuspätkommen, die zwanghafte Wichtigkeit von Terminen und Pünktlichkeit in ihrer Herkunftsfamilie und seltsame Begeisterung über den ausgesprochenen Satz.
Deshalb sagte ich zu der Klientin: „Vielleicht wollen Sie ja durch Ihr häufiges Zuspätkommen unbewusst sich und anderen beweisen, dass Ihr Leben jetzt wirklich Ihnen gehört. Und wenn Sie zu einem Termin pünktlich kommen würden, Sie das als Unterwerfung oder blinden Gehorsam erleben würden. So wie zuhause.“ Meine Vermutung war zutreffend, denn die Klientin sagte nur: „Donnerwetter, ich glaube, Sie haben Recht.“ Dann berichtete Melanie C., dass sie schon wenn sie einen Termin mit jemand ausmachte und sei es auch nur ein Kinobesuch sich ihre Laune verschlechtern würde. Das habe sie bis jetzt nie verstanden, aber jetzt würde es ihr klarer. „Ich verstehe jetzt, dass ich mich durch das Ausmachen des Termins irgendwie gezwungen fühle. Jemand will bestimmen, dass ich an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Zeit aufzutauchen habe.“ „Und Ihre Unpünktlichkeit ist bis jetzt Ihre beste Lösung aus dieser Zwickmühle. Sie unterwerfen sich nicht, sondern kommen zum vereinbarten Meeting. Aber nicht zu der vorgeschriebenen Zeit, sondern zu Ihrer eigenen Zeit. Und für diese Lösung brauchen Sie die zehn oder fünfzehn Minuten, mit denen Sie Ihre Unabhängigkeit demonstrieren.“ Melanie C. lächelte: „Klingt verrückt, aber genauso ist es. Wenn ich pünktlich wäre, käme ich mir vor wie ein Spießer, der sich peinlich genau an alle Vorschriften hält.“ „So wie Sie es zuhause spießig genau mit den Essenszeiten erlebt haben“, zeigte ich nochmal die Zusammenhänge auf. In Kindheit und Jugend von Melanie C. war aus ihrer Sicht alles superstreng geregelt. Diesem Zwang musste sie sich damals fügen. Manche Menschen übernehmen das dann in ihr erwachsenes Leben. Werden selbst zwanghaft pünktlich oder flüchten sich in Zwangsrituale, um die innere Wut wegzusperren. Andere, wie meine Klientin machen das Gegenteil und lehnen sich auf. Als hätten sie damals als Kind unbewusst einen inneren Schwur abgelegt, nach dem Motto: „Wenn ich mal groß bin, sagt mir keiner mehr, was ich zu tun habe.“ Diese Menschen lehnen sich dann gegen jede vermeintliche Form von Einschränkung ihrer Freiheit oder Bevormundung auf. Sie erleben jede Struktur oder Regel als Übergriff und widersetzen sich. So wie bei meine Klienten. „Als Reaktion auf die strengen Regeln in Ihrem Elternhaus haben Sie beschlossen, dass Sie sich später im Leben niemals wieder was von jemand sagen lassen.“ Melanie C. hörte interessiert zu und überlegte. „Ich glaube, das stimmt. Fristen, Verbote oder Regeln reizen mich automatisch zum Übertreten. Wenn ich ein Tempolimit auf der Straße sehe bin ich oft versucht, extra schneller zu fahren obwohl ich es nicht eilig habe. Das Finanzamt wartet seit zwei Jahren auf meine Steuerklärung. Rechnungen bezahle ich aus Prinzip nicht sofort, sondern erst nach der ersten Mahnung.“ „Sie fühlen eben sehr schnell Ihre Freiheit angegriffe, selbst durch ein Verbotsschild, das ja nicht aufgestellt wurde, um Sie zu ärgern. Aber Sie interpretieren fast jedes Signal als Einmischung, als Übergriff, als Bedrohung Ihrer so geliebten Unabhängigkeit. Sogar wenn das Signal von Ihrem eigenen Magen kommt, rebellieren Sie dagegen.“ Melanie C. stutzte, weil sie den Zusammenhang nicht gleich verstand. Nach einer Weile lächelte sie aber: „Ich lasse mir doch von einem doofen Magen nicht vorschreiben, wann ich essen sollte!“ Wir arbeiteten noch eine Weile mit dem Satz „Mein Leben gehört mir“. Und wie die Klientin einem Mittelweg finden könnte zwischen Ihrem starken Wunsch nach Unabhängigkeit und Freiheit und dem Fakt, dass wir als Menschen nie ganz frei sind von allem und jedem, sondern auch immer wieder abhängig und uns deshalb arrangieren müssen. Aber Anpassen ist nicht gleichbedeutend mit Unterwerfung. Wer bei Kälte draußen einen Schal anzieht, unterwirft sich nicht dem Wetter, sondern sorgt gut für sich.
Nach zwei Monaten schrieb Melanie C. mir eine Mail. Sie müsse noch immer sehr darauf achten, nicht zu spät zu kommen, aber sie mache Fortschritte. Am meisten helfe ihr der Gedanke, dass eine Terminvereinbarung einfach nur praktisch sei, weil man dann pünktlich anfangen könne, wenn alle anwesend sind. Und dass es keine Maßnahme sei, um sie zu disziplinieren. Hilfreich sei auch ein Gespräch mit ihrer Mutter über die starren Essenzeiten damals gewesen. Sie sei mittlerweile Rentnerin und sehe vieles lockerer. „Früher gehörte mein Leben Zahlen“, habe sie gesagt, „jetzt gehört mein Leben mir.“ „Vielleicht müssen Sie in Ihrem Leben nicht bis zur Pensionierung warten“, schrieb ich zurück.