Ich dachte, als Rentner würde ich mein Leben genießen.

(sagte der Mann im Coaching)

Unser ganzes Leben kann man als eine Aneinanderreihung von Zielen begreifen. Vom Kindergarten in die Schule, dann Ausbildung oder Studium. Eine gute Position im Beruf finden, einen passenden Partner für das Privatleben. Dann Kinder großziehen, vielleicht ein Haus bauen ... Manchen Menschen ist da zu verplant und sie träumen davon, wenigstens im Rentenalter ganz ohne Ziele und Termine leben zu können. Warum das mitunter nicht klappt, lesen Sie in diesem Fallbericht.

„Ich habe mich sehr auf diesen Termin gefreut, weil es der einzige in dieser Woche ist“, sagte Rainer M., 67 Jahre, Rentner im Online-Coaching. „Es ist schon paradox. Früher hatte ich zu wenig Zeit als Geschäftsführer einer mittelständischen Firma. Viele Geschäftsreisen, dauernd Meetings, Telefonate, meist kam ich erst nach 19 Uhr nach Hause. Nach einem Burnout habe ich mir in der Reha-Klinik geschworen, dass ich spätestens als Rentner mein Leben mehr genießen würde. Wandern, Lesen, Gitarre spielen.“ „Und wie sieht Ihr Rentnerleben heute aus?“, erkundigte ich mich. „Tja, Zeit habe ich im Überfluss aber die Ruhe zum Lesen oder Wandern finde ich nicht.“

Endlich mal Zeit für mich und das, was mir wichtig ist

Diesen Traum haben viele. Die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens verspricht ja auch genau das. Aus dem Hamsterrad auszusteigen und Zeit für seine Neigungen zu haben. Im Alter nicht mehr arbeiten zu müssen, ist der Wunsch vieler Menschen, für die die Arbeit vor allem Gelderwerb bedeutet oder die sich von der täglichen Arbeit zu sehr belastet fühlen. Wer in seiner Tätigkeit aufgeht, arbeitet freiwillig auch über die Pensionsgrenze hinaus. Das Hamsterrad ist das gängige Symbol für dieses Phänomen, sich im Kreis zu drehen und immer weiterlaufen zu müssen. Doch nicht das Hamsterrad treibt uns an. Es läuft nicht von selbst. Wir im Hamsterrade halten es am Laufen.

„Was führt Sie zu mir?“ fragte ich Rainer M. nach seinem Anliegen. „Seit ich in Rente bin, könnte ich tun, wozu ich Lust habe – aber ich habe zu nichts mehr Lust. Alles erscheint mir so bedeutungslos. Ob ich jetzt den Keller aufräume oder nichts, was soll’s. Manchmal beneide ich meine Frau, die ist zehn Jahre jünger, steht voll im Beruf und fährt morgens pfeifend zur Arbeit. Die meiste Zeit wenigstens. Und ich sitze nach dem Frühstück am Tisch und überlege, wie ich den Tag rumbringe, bis sie wiederkommt. Manchmal denke ich, mir fehlen die Ziele, die früher mein Leben mit Sinn erfüllt haben.“

Gute Gewohnheiten sind wichtiger als Ziele

Um etwas in der Zukunft zu erreichen, braucht man ein Ziel, so steht es in jedem Ratgeber. Das ist so sehr zum Alltagswissen geworden, dass wir es nicht mehr hinterfragen.

Im Berufsleben werden die Ziele oft von „oben“ vorgegeben oder bestimmt. Zehn Prozent mehr Umsatz. Kosten senken. Gewinne steigern.

Und auch im privaten Leben folgen wir Zielen. Vor allem zu Beginn eines neuen Jahres setzen wir uns Ziele. Mehr Sport. Weniger Alkohol. Mehr Zeit mit der Familie. Meistens wird nichts daraus.

Deshalb halte ich nicht so viel von Zielen. Ich bin mehr für gute Gewohnheiten. Warum?

Bei Zielen kann man versagen. Bei guten Gewohnheiten nicht

Dreimal die Woche zehn Kilometer joggen, ist ein Ziel. Das man vielleicht nach einer gewissen Zeit reduziert oder aufgibt, weil man es nicht durchhält.

Täglich die Treppe statt des Aufzugs zu benutzen und abends nochmal um den Block zu kaufen sind gute Gewohnheiten. Sie sind nicht so ambitioniert, dafür werden Sie sie vermutlich eher durchhalten, auch wenn es mal stressig wird.

Am Wochenende ein paar Stunden die Wohnung aufräumen, ist ein Ziel. Jede Sache sofort an ihren Platz zu legen, ist eine gute Gewohnheit.

Ziele kann man verfehlen

Drei Monate nicht mehr geraucht. Doch keine Gehaltserhöhung bekommen. Ein Ziel nicht zu erreichen, ist frustrierend und dämpft die Motivation, von vorne anzufangen.

Gute Gewohnheiten kann man mal schleifen lassen

Weil man mal nicht in der Stimmung war. Kein Problem. Kein Grund für Schuldgefühle. Macht man eben am nächsten Tag weiter. Weil es kein Ziel gibt, hat man auch nichts versäumt.

Ähnlich verhält es sich mit den großen Lebenszielen. Gut für sich sorgen und es sich gut gehen lassen. Möglichst selbstbestimmt leben. Das Haus am See. Endlich ein Buch schreiben. Mehr Zeit für die Partnerschaft oder für sich selbst. Meist warten Menschen darauf , dass man endlich mal Zeit dafür hat. Das Leben ist immer jetzt. Das Ziel immer in der Zukunft.

Für eine gute Gewohnheit findet man immer Platz in der Gegenwart. Das ist das Praktische daran. Und das Tröstliche. Kein Warten auf den Erfolg oder … Heute anfangen. Jetzt. Und dann jeden Tag danach, der einem geschenkt wird.

Im Rentenalter realisieren viele den Preis, den ihr bisheriges Leben verlangt hat

Obwohl Hermann F. sich jetzt im lang ersehnten Ruhestand befand, war er ein trauriger, alternder Mann, der ständig über die Leere seines Lebens nachdachte. Im Coaching wurde deutlich, dass er nie irgendwelche Interessen außerhalb seiner Arbeit gehabt hatte. Und die Aussicht, zu Hause Zeit mit seiner Frau zu verbringen, die ihm in all den Jahren fremd geworden war, machte ihn noch deprimierter.

Für viele Menschen, die Organisationen voran stehen, wird die öffentliche Anerkennung, die mit einer Position an der Spitze einhergeht, zur bedeutungsvollsten Dimension ihres Lebens. Es wird oft zu ihrer Droge, ohne die sie nicht leben können.

Auch Hermann F. hatte früh den Sog gespürt, sich mit einer machtvollen Institution zu identifizieren. Für solche Menschen kann der Eintritt ins Rentenalter wie ein Schock wirken. So wie für den Drogenabhängigen der kalte Entzug. Denn mit dem Leben als Rentner verschwinden all diese Anker von einem Tag auf den anderen.

„All das, was mir über Jahrzehnte so wichtig war, ist jetzt weg“, beschrieb Herrmann F. seinen erlebten Verlust. „Der Dienstwagen mit Chauffeur, die Flüge in der ersten Klasse, die Aufmerksamkeit des Personals, der Respekt eines Teams – alles weg! Jetzt gehe ich morgens zum Bäcker, und wenn der schlecht drauf ist, begrüßt er mich nicht einmal.“ Es ist vor allem dieser Verlust an narzisstischer Zufuhr, der Menschen wie Hermann F., den Ruhestand vergiftet.

Zusätzlich schmerzlich kann die Erkenntnis sein, was der Preis für die Karriere war. Meist ein Mangel an persönlichem Leben oder eine Entfremdung zum Partner oder den Kindern. Auch der Kontakt zu Freunden und die Zeit, um Kontakte und Interessen nach außen zu entwickeln, kam meist zu kurz. Mein Klient berichtete:

„Ich sehe es an Managern, die in derselben Situation sind wie ich. Der Verlust an Status und Aufmerksamkeit bringt sie dazu, ihren Rücktritt immer wieder zu verschieben, um an der Macht zu bleiben und das Rentenalter so lange wie möglich hinauszuzögern. Aber das wollte ich nie. Ich wusste immer, dass es ein Leben außerhalb der Arbeit gibt. So dachte ich.“
„Und jetzt haben Sie so viel freie Zeit und wissen nicht, was damit anfangen.“
„Genau. Immer mal wieder sitze ich da und überlege: Was soll ich machen? Eine Weltreise? Den Kilimandscharo besteigen oder endlich den Jakobsweg gehen? Nochmal studieren? Archäologie würde mich reizen – aber wozu? Den Motorradführerschein machen, habe ich überlegt. Oder Fallschirmspringen? Aber all das reizt mich nicht wirklich.“

Im Coaching will ich ein Lebensthema klären

Eine Situation, wie sie Herrmann F. erlebt, ist nicht einfach zu lösen. Weder für ihn selbst, noch für wohlmeinende Partner oder Freunde, auch nicht für einen Coach. Denn die meisten Menschen machen in einer solchen Situation hilfreich gemeinte Vorschläge.

  • „Warum probierst du nicht …“
  • „Du könntest ja auch …“
  • „Wir brauchen bei uns im Verein noch jemanden, der …“
  • „Hör auf zu grübeln, genieß doch einfach dein Leben.“

Natürlich ergebnislos, denn solche Gedanken hatte der Klient auch schon zuhauf – und hat sie mit guten Argumenten widerlegt.

Vor- und Ratschläge sind hier unpassend, weil das eigentliche Problem tiefer sitzt und der Klient es selbst noch nicht erkannt hat. Deshalb habe ich eine Methode entwickelt, mit der Coachees erleben können, um welches Thema, das meist ein Lebensthema ist, es sich eigentlich handelt.

Dazu ist es wichtig, die Aufmerksamkeit des Klienten vom Verstand wegzulenken. Denn der Autopilot, das System, das wir im Alltag zu neunzig Prozent nutzen, ist ungeeignet, um tiefere Schichten der Persönlichkeit zu erreichen. Dafür braucht es Achtsamkeit.

Deshalb bat ich Hermann F., es sich bequem in seinem Stuhl zu machen, die Augen zu schließen und einen Satz laut nachzusprechen – und dabei genau auf seine inneren Reaktionen wie Körperempfindungen, Gefühle und Gedanken zu achten. Ich bat ihn, den Satz zu sagen:

Ich muss nichts mehr beweisen.

Seine Reaktion war sofort da.

„Das stimmt nicht!“ stieß der Klient erregt hervor.
„Das hat noch nie gestimmt. Mein ganzes Leben lang musste ich etwas beweisen. Das war immer mein Antrieb.“
„Wie meinen Sie das?“, wollte ich wissen.
„Ich habe einen drei Jahre älteren Bruder. Für den war ich nur der Kleine. Und er ärgerte mich oft, indem er behauptete, dass ich Angst hätte, irgendwas ihm nachzumachen. Einmal waren wir im Schwimmbad und er übte Sprünge vom Drei-Meter-Brett. Natürlich fing er wieder davon an, dass ich das nicht könnte, weil ich mich nicht traute.“

„Und da wollten Sie es ihm beweisen?“ vermutete ich.
„Ja genau. Ich stieg die Treppe hoch zu dem Brett und als ich oben war, erschrak ich, wie hoch das war. Und da runterspringen ins Wasser? Ich hatte solche Angst, dass ich mir in die Hosen machte. Zum Glück sah man das an meinen nassen Beinen nicht. Unten stand mein Bruder mit seinen Kumpels und schaute hoch. Jetzt wieder vom Turm runtersteigen und eingestehen, dass ich Angst hatte. Das konnte ich nicht. Und ich sprang.“
„Das war wohl Ihre wichtigste Lebensstrategie“, sagte ich.“ Die Angst wegzudrücken und beweisen, dass Sie es doch können.“
„Ja, so war das auch bei meinem ersten Auslandsposten in Japan. Ich kannte weder die Sprache noch die Mentalität der Menschen dort. Alle rieten mir ab, mich auf ein solches Abenteuer einzulassen. Aber ich habe mich reingekniet und es durchgezogen. Und es ging gut. Ich hatte es wieder allen bewiesen.“

Lebensthemen und die dazugehörigen Strategien lösen sich selten ganz auf. Vor allem, weil sie dem Klienten unbewusst sind, reagiert er daraus ohne den Zusammenhang zu erkennen. Sie hängen fast immer mit schmerzlichen Erlebnissen in der Kindheit zusammen. „Ihrem Bruder wollten Sie beweisen, dass Sie dasselbe können wie er, daß Sie nicht der Kleine sind. Gab es noch mehr Erlebnisse, wo Sie etwas beweisen wollten?“
„Jede Menge. Ich war Legastheniker und stotterte außerdem, wenn ich aufgeregt war. Das machte meinem Vater große Sorgen. Von ihm hörte ich öfters, dass er zu meiner Mutter sagte, dass er nicht wisse, ob und was aus mir mal werden würde.“
In meinem Coaching will ich auch immer deutlich machen, wie sehr Entscheidungen und Lebensstrategien von damals bis ins heutige Leben hineinwirken.

„Wenn ich Ihre Ziele heute so höre, Weltreise, Kilimandscharo, Jakobsweg, Archäologie, Motorradführerschein oder Fallschirmspringen, frage ich mich, ob Sie damit auch etwas beweisen wollen?“
Hermann F. dachte kurz nach und antwortete:
„Wahrscheinlich will ich mir beweisen, dass ich noch nicht zum alten Eisen gehöre.“
„Aber Sie gehören doch zum alten Eisen, mit 68 Jahren. Oder etwa nicht?“, widersprach ich.
„Hmm“, brummte er.
„Die Frage ist, was das bedeutet, zum alten Eisen zu gehören. Oder besser gesagt, welche Bedeutung Sie dem geben.“
„Na, dass man nutzlos ist. Nicht mehr gebraucht wird.“
„Aber für Alteisen wie für andere Metalle gibt es einen Markt. Das wird immer noch gehandelt.“
„Das sagt meine Frau auch ab und zu. Du wirst noch gebraucht. Und ich denke, dass sie recht hat. Aber ich weiß nicht, wofür. Es klingelt ja nicht dauernd das Handy bei mir und ich bekomme auch keine Jobangebote mehr. Und ich weiß auch gar nicht, was ich eigentlich will.“

Ein Leben ohne Ziele – geht das?

Dass man im Leben Ziele braucht, ist Teil unserer Kultur. Ich habe das auch lange geglaubt und mir jedes Jahr kurz-, mittel- und langfristige Ziele gesetzt. Doch die meisten Ziele, die wir haben, sind entweder nicht unsere eigenen, schränken uns ein, sind unerreichbar oder mit Versprechen verbunden, die niemals eingelöst werden. Das Ziel, gesund die Rente zu erreichen, war so ein Ziel für Hermann F. gewesen.

Aber es geht auch ohne Ziele

Denn Ziele begrenzen auch unsere Möglichkeiten und Erfahrungen. Wenn Sie am Wochenende wandern gehen wollen und sich dafür ein Ziel setzen, kommen Sie vermutlich auch dort an. Aber was würde passieren, wenn Sie ohne ein Ziel einfach drauflos wandern? Und nach einer Viertelstunde an einer Kreuzung abbiegen. Und nach einer halben Stunde noch einmal. Also, Sie ändern willkürlich die Richtung. Nach zwanzig Minuten oder einer Stunde werden Sie mit Sicherheit irgendwo sein! Sie haben bloß nicht gewusst, wo Sie landen würden.

Der Vorteil dieser Herangehensweise ist: Wenn Sie sich innerlich öffnen, werden Sie an Orte kommen, die Sie sich bis jetzt nicht einmal vorstellen konnten. Wenn Sie öfter ohne Ziele leben, werden Sie Neuland betreten. Sie werden auch einige unerwartete Dinge lernen. Nicht immer wird es Ihnen gefallen, wo Sie landen. Aber es ist ungemein befreiend.