Wie nah kann eine Fotografin den Menschen kommen, die sie porträtiert? Welche Rolle nimmt sie ihnen gegenüber ein und welche Verantwortung übernimmt sie? Die Beziehungen zu den Menschen und ihre eigene Position darin als Fotografin bilden die Grundlage der künstlerischen Arbeit von Bieke Depoorter. Die deutschlandweit bisher umfassendste Einzelausstellung umfasst fünf Serien aus den Jahren 2015 bis 2019 und präsentiert die 1986 in Belgien geborene Fotografin als eine Künstlerin am Wendepunkt ihrer Karriere.
In fünf aktuellen, teils fortlaufenden Projekten setzt sich Depoorter mit gegenwärtigen gesellschaftlichen Themen auseinander und hinterfragt ihre Rolle als Fotografin sowie die Grenzen ihres Mediums. Ausgangspunkt sind oft zufällige Begegnungen mit Menschen, die sie dann teilweise über Jahre begleitet und sich mit den Fragen auseinandersetzt, ob und wie man einen Menschen mithilfe der Fotografie erfassen und wie dabei echte Zusammenarbeit gelingen kann. Verschiedene Reisen führten sie unter anderem nach Ägypten, Frankreich, Norwegen, in die USA und den Libanon.
Anfangspunkt der Ausstellung sind Arbeiten von 2015, kurz bevor Bieke Depoorter als zu der Zeit jüngste Fotografin zum Vollmitglied der renommierten Agentur Magnum Photo ernannt wurde. Die Ausstellung zeigt auf, wie sich ihre Arbeitsweise in dieser Zeit und bis heute fortlaufend und dramatisch verändert hat. Wichtige Sujets sind nach wie vor die Nacht und Momente, in denen niemand zu beobachten scheint. Im Vordergrund stehen heute aber vermehrt ästhetische, ethische und soziale Fragen sowie Depoorters nie abgeschlossene Suche nach Antworten. Die aktuellen Serien sind eine Auseinandersetzung der Künstlerin mit dem Wesenhaften ihrer Arbeit und eine Suche nach ihrer Rolle als Fotografin, nach Dialog und Kooperation mit den Menschen, die sie porträtiert. Sie versteht sich als Fotografin immer mehr als Außenseiterin, aber auch als Künstlerin, die nach Wegen sucht, die Lücke zwischen ihr und den Menschen, die sie fotografiert, zu schließen. Oft sind es am Ende gemeinsame Erzählungen von Fotografin und Porträtierten, die in die Arbeiten eingehen.
Mit der multimedialen Installation Sète#15 (2015), einer nächtlichen Reise durch die französische Hafenstadt, und dem Kurzfilm Dvalemodus (2017) beginnt Depoorter, ihre eigenen Erzählungen auf die Realität anderer Personen zu projizieren. Sie besucht Menschen und inszeniert sie in deren tatsächlicher, privater Umgebung. Dabei fiktionalisiert sie deren Darstellung durch Elemente ihrer eigenen Geschichte und verwischt damit die Grenze zwischen der Welt der anderen und ihrer eigenen.
Für die Serie As It May Be reiste Bieke Depoorter seit Beginn der Revolution 2011 regelmäßig nach Ägypten. Sie suchte nach Vertrauen in Zeiten von Aufruhr und Misstrauen, Zeiten, in denen die Menschen ihr Privatleben besonders schützten. Sie fragte Menschen, denen sie zufällig begegnete, ob sie die Nacht bei ihnen zu Hause verbringen könne. Frauen, Ehemänner und Kinder teilten ihr tägliches Leben, ihr Essen und sogar ihr Bett mit ihr. Verbindungen wie diese sind für Depoorter besonders wichtig. Dennoch nahm ihr Bewusstsein für ihren Status als Außenseiterin, sowohl kulturell als auch als Fotografin, zu. Im Jahr 2017 besucht sie das Land mit dem ersten Entwurf des Buchs erneut und lädt andere ein, Kommentare auf die Fotos zu schreiben. So entstehen gegensätzliche Ansichten über Land, Religion, Gesellschaft und Fotografie zwischen Menschen, die sich sonst wahrscheinlich nie begegnet wären. As It May Be zeigt eine Bevölkerung im Übergang, voller Integrität, Verbindlichkeit und Respekt.
Im selben Jahr beginnt die fortlaufende Serie Agata. Depoorter trifft die junge Performerin in einem Stripclub in Paris. Zwischen den beiden entsteht eine komplexe Beziehung, aus der eine ganze Reihe an Porträts entsteht. Die Arbeit basiert auf einer kollaborativen Arbeitsdynamik und der Vereinbarung, „einander zu nutzen“. Agata spielt mit und sucht nach Identität, so wie Depoorter fotografische Autorschaft in Frage stellt. Die Porträts sind ein Produkt beider, einer komplexen Beziehung zwischen Fotografin und Porträtierter. Bis heute verreisen die beiden Frauen zusammen und besuchen einander. Es entstehen fortlaufend neue kollaborative Porträts, die eine gemeinsame Geschichte erzählen und in denen die Anforderungen und das Extrem echter künstlerischer Kollaboration sichtbar werden. Gemeinsam loten die Beiden die Grenzen von Illusion und Wahrheit und die komplexen Beziehungen zwischen Selbst und Anderem aus.
Die Serie Michael ist eine fortlaufende geradezu detektivische Arbeit. 2015 trifft Depoorter Michael in Portland. Er gibt ihr drei Koffer voller Collagen und Schreibfetzen und verschwindet daraufhin spurlos. Bis heute sucht sie immer wieder nach ihm und versucht sein Leben zu verstehen. In neuen Installationen verarbeitet sie ihre aktuelle Auseinandersetzung mit seinem Verschwinden und dessen Spuren. Für die Ausstellung im NRW-Forum arbeitet sie gemeinsam mit ihrem Bruder, dem Medienkünstler Dries Depoorter, an einem Kapitel dieser Arbeit.
Bieke Depoorter wurde 1986 in Kortrijk, Belgien, geboren. Sie hat Fotografie an der Royal Academy of Fine Arts in Gent studiert, wo sie 2009 den Master-Abschluss erwarb. Drei Jahre später, im Alter von nur 25 Jahren, wurde sie von Magnum Photos nominiert, 2016 zum ordentlichen Mitglied ernannt. Depoorter hat mehrere Auszeichnungen und Ehrungen erhalten, darunter den Magnum Expression Award, den Larry Sultan Award und den Prix Levallois. Sie hat vier Bücher veröffentlicht: „Ou Menya”, “I am About to Call it a Day”, “As it May Be” und “Sète#15”. Für die Veröffentlichung der Bücher arbeitete sie mit Aperture, Editions Xavier Barral, Edition Patrick Frey, Lannoo, Hannibal und Le bec en l'air zusammen.
Die Ausstellung wurde kuratiert von Joachim Naudts für das FOMU (museum of photography, Antwerpen, Belgien), wo sie bis zum 10. Februar 2019 zu sehen war. Die Ausstellung erfasst den besonderen Moment einer Fotografin, die sich von einer neuen Seite präsentiert und den fortlaufenden Prozess ihrer künstlerischen Entwicklung offenlegt.