Monika Sprüth und Philomene Magers freuen sich mit den Arbeiten Erdkunde I, II, III (1986) und (Süd-) Koreanischer Kalender (1991) die erste Einzelausstellung von Hanne Darboven in der Berliner Galerie präsentieren zu können. Die Hamburger Konzeptkünstlerin ist bekannt für ihre seriellen Schreibarbeiten und datumsbasierten Quersummenberechnungen in Form von wandfüllenden Blockhängungen identisch gerahmter Papierarbeiten. Ab den 1980er Jahren kombiniert Darboven verschiedene Darstellungs- und Präsentationsformen, indem sie Bild- und Text-Tafeln collagiert. Erstmals in Gänze gezeigt, füllt die enzyklopädische Arbeit Erdkunde I, II, III den großen Saal der Galerie, während die Kalender-basierte Arbeit (Süd-) Koreanischer Kalender den ersten Raum einnimmt.
Erdkunde I, II, III besteht aus über 700 Tafeln, die jeweils aus vier hochformatigen, beschrifteten und collagierten DIN-A4-Blättern zusammengesetzt sind. Die Künstlerin baut jede collagierte Seite mit den für ihre Arbeit charakteristischen Komponenten auf: schriftähnliche Wellenbogenzeichnungen, handschriftliche Zitate von Lexika Artikeln zum Thema „Erde“ oder „Erdkunde“, Kopien aus naturwissenschaftlichen Sachbüchern, Abbildungen von Schautafeln und Schwarz-Weiß-Fotografien ihres Ateliers- oder Ausstellungsansichten. Auflistungen von Ortsnamen, Monumenten, Gegenständen, historischer Personen und Ereignissen vervollständigen die jeweilige Seite und stecken das breite Themenfeld von Hanne Darbovens Schaffen ab. So entsteht eine Art Gesamtindex ihres enzyklopädischen Œuvres.
Die großflächigen Wanddisplays erweitert Darboven mit zehn im Raum frei stehenden Schautafeln, die der Arbeit eine dritte Dimension verleihen. Die Schulkarten visualisieren verschiedene Lehrinhalte des klassischen Geographie- und Sachkundeunterrichts. Eine Landkarte, Ansichten einer Berglandschaft, sowie ein schematisches Schaubild der Braun- und Steinkohleförderung spiegeln die Lehrinhalte vergangener Jahrzehnte wider und geben gleichzeitig Aufschluss über die herkömmlichen analogen Vermittlungsmethoden von Bildung und Wissen.
Für Darboven sind die von ihr ausgewählten Tafeln Ausgangspunkt und Material, um neue Verknüpfungen und Konstellationen zu konstruieren und eigene Ordnungssysteme zu erproben. Ihre künstlerische Strategie der assoziativen Auseinandersetzung mit tradierten Wissensinhalten erinnert an die Methode Aby Warburgs, der für die Schautafeln seines legendären Mnemosyne-Atlas (1924–29) reproduzierte Bildmaterialien verschiedener Art und Herkunft kombinierte. Gleichzeitig reflektiert Darboven die herkömmlichen didaktischen Methoden und Präsentationsformen der Wissensvermittlung. Der Titel Erdkunde – identisch mit dem gleichnamigen Schulfach – bezieht sich auf die Wissenschaft, die sich mit der Erde befasst, sowohl in ihrer physischen Beschaffenheit als auch in Bezug auf die Auswirkungen der geografischen Bedingungen auf die gesellschaftliche Ordnung und die kulturelle Entwicklung. Darüber hinaus verweist der Titel auf den Ursprung dieser Wissenschaft, das Zeitalter der Entdeckungsreisen, welches den Beginn der modernen (Natur-)Wissenschaften markiert. Erdkunde I, II, III versteht sich als Hommage an den Naturforscher und Universalgelehrten Alexander von Humboldt, der auf zwei Fotografien des ersten Index in Form einer Büste repräsentiert ist. Alexander von Humboldt, dessen Geburtstag sich am 14. September 2019 zum 250. Mal jährt, gilt als Begründer der empirischen Geografie. Darbovens Werk verweist auf die Verschränkung von Natur- und Kulturgeschichte, die Humboldt in seinen berühmten „Kosmos“-Vorträgen und in seiner Forschung ausführte.
Darboven thematisiert mit Erdkunde I, II, III das grundsätzliche enzyklopädische Bestreben, die Gesamtheit allen Wissens zusammenzufassen. Dabei strebt sie in ihrer Kunst – neben einer kognitiven Erfassung und Vermittlung von historischen und wissenschaftlichen Fakten – zunehmend nach der sinnlichen Unmittelbarkeit und Authentizität der physischen Welt.
Im ersten Raum wird der (Süd-) Koreanischer Kalender / (South) Korean Calendar (1991) präsentiert. Für diese Arbeit dienten die Seiten eines südkoreanischen Jahreskalenders als Grundlage. 365 identisch gerahmte Tafeln und ein Deckblatt entfalten durch die spezielle Grafik und Farbigkeit der Kalenderblätter eine für Darboven eher ungewöhnliche, beinahe plakative Wirkung. Große arabische Ziffern dominieren jedes Blatt, wobei die Ziffer stets von einer Kopf- und einer Fußzeile mit asiatischen sowie arabischen Schriftzeichen und Ziffern eingefasst ist. Die zentralen Ziffern sind mit einem Spitzenmuster gedruckt und umgeben von einer Reihe Figuren, die Luxusgegenstände wie Diamantringe und Armbanduhren darstellen. Handschriftliche Filzstifteinträge ergänzen jede der 365 Kalenderblattseiten, die aus den für Darboven typischen Quersummenberechnungen von Tagesdaten bestehen. Diese errechnet sie aus der Aufsummierung von Tag, Monat, Dekade und Jahr, die sie dann in schriftähnliche Wellenbögen überträgt. Letztere sind in bis zu zehn Zeilen angeordnet, wobei die Summe der Bögen am Ende jeweils wieder durch eine arabische Zahl festgehalten wird. Den Abschluss jeder Seite bilden die ebenfalls handschriftlich ergänzten Worte „heute / today“, die Darboven wie auch die Wellenbogen-Zeilen durchgestrichen hat.
Lucy Lippard hat Darbovens datumsbasierte Aufzeichnungen definiert als einen „Prozess, der Zeit benötigt, der die Zeit unter anderem zum Thema hat und dem die Zeit gleichzeitig (in Form des Kalenders) als numerische Grundlage dient“. Die wellenförmigen Zeichnungen, die zu Beginn eines jeden Monats abnehmen, um sukzessive bis Monatsende wieder anzuwachsen, erinnern an die wiederkehrenden Bewegungen der Gezeiten, an Ebbe und Flut, und visualisieren das Werden und Vergehen.