KEWENIG freut sich, die Ausstellung „The Palace of Perfect“ mit Werken von James Lee Byars (1932 – 1997) zu eröffnen. James Lee Byars zählt zu den herausragenden Persönlichkeiten der Kunst des 20. Jahrhunderts. Insbesondere mit seinen Performances hat er in seiner Zeit und ihr voraus der Kunst der Gegenwart neue Terrains erschlossen und die bis dato geltenden Grenzen des Künstlerischen gesprengt. Vergleichbar allein mit Andy Warhol oder Joseph Beuys war sein Werk untrennbar verbunden mit dem Auftritt seiner Person. Byars, der Mann im goldenen Anzug, mit schwarzen Handschuhen und schwarzem Zylinder, die Augen – manchmal das ganze Gesicht – verhüllt hinter dem Schleier eines schwarzen seidenen Tuches; der Künstler als Zauberer, als Magier der Dinge in einer Welt der Alltäglichkeit, ein sonderbarer Solitär, der in der schillernden Exposition seiner selbst, die Aufmerksamkeit nicht nur auf sich zog, sondern gleichzeitig die Aufmerksamkeit für den aktuellen Moment in anderen zu entzünden vermochte, so Präsenz und Geistesgegenwart kreierend. James Lee Byars steht in der Maske seiner künstlerischen Verschleierung anonymisiert als Mensch im Zentrum seines Werkes, als Sinnsuchender in einer Welt voller Fragen.
1932 in Detroit geboren, studierte Byars in seiner Heimatstadt Kunst, Psychologie und Philosophie an der Wayne State University. Einer frühen Neigung zur japanischen Kultur folgend reist Byars 1958 zum ersten Mal per Schiff nach Japan. Im folgenden Jahrzehnt wird er zwischen Japan und den USA pendeln und verbringt die meiste Zeit in Kyoto. In Japan taucht Byars tief in die fremde Kultur und Philosophie des Landes ein, erkundet die Kalligraphie, die Tee-Zeremonie, das No-Theater, den Zen Buddhismus. Der respektvolle und zeremonielle Umgang mit Materialien, mit handgeschöpften Papieren, mit Stoffen und edlen Steinen üben einen besonderen Reiz auf ihn aus. Und nicht von ungefähr beantwortet er später die Frage, wer ihn am meisten beeinflusst habe, mit den Namen „Einstein, Wittgenstein und Gertrude Stein“. Die bedacht-konzentrierte Handlung auf dem Weg zur Vollkommenheit, die Byars in Japan kennenlernt, wird zur zentralen Basis seiner künstlerischen Sprache. Und auch die Entscheidung, in Zeiten der arte povera seine Werke aus edlen Materialien herzustellen, aus hochwertigsten Papieren, dem nahezu vollkommenen weißen Marmor aus Thassos, aus Seide, Samt, Diamanten und Gold hat hier ihre Wurzeln.
In seinen Performances, seinen Zeichnungen, Briefen und Skulpturen verkörpert Byars den Traum von der Vollkommenheit in einer unvollkommenen Welt. Titel wie „The Perfect Smile“, „The Perfect Tear“, „The Perfect Thought“, „The Perfect Book“ oder „The Book of 100 Perfects“ markieren dieses künstlerische Konzept ebenso wie der Titel dieser Ausstellung. Dieser romantische Traum von der Utopie einer anderen Welt wird in der Gegenwart von Byars Werk für einen Moment lebendig, wird zum Hier und Jetzt im Schein der Schönheit seiner Objekte. Frappierend dabei ist, dass traditionelle Elemente wie der Ritus, die Zeremonie, das barocke Ornament und ähnliches zum Vehikel und Transmissionsriemen einer absolut zeitgenössischen, konzeptuellen Kunstpraxis werden und in diesen Zusammenhängen eher verpönten Erscheinungen wie der Schönheit oder dem Geheimnis Raum gegeben wird.
Die Ausstellung „The Palace of Perfect” zeigt vornehmlich Werke aus den 1980er Jahren. Viele dieser Werke sind Bücher, d.h. es sind Bücher im Sinne von James Lee Byars. Für ihn konnte ein Buch aus einer Seite oder aber auch aus Hunderten von Seiten bestehen. Es konnte Schrift enthalten oder auch nicht. James Lee Byars‘ Bücher können aber auch aus Stein oder Marmor sein und in sich verschlossen wie ein versiegeltes Geheimnis. In Byars‘ Universum sind Bücher ein Synonym für die Sinnsuche, Objekte, an die fragende Erkenntnis gebunden ist, oder, wie Mallarmé es formulierte: „Alles in der Welt existiert, um in ein Buch zu münden.“ So sind „The Moon Books“, 1989, zu sehen, Bücher aus Marmor geschnitten, geformt nach den unterschiedlichen Phasen des Mondes, in denen die zentralen Fragen des Universums schlummern, die Byars auf einen goldenen Tisch bringt. Ein enigmatisches Ensemble wie die Steinformationen von Stonehenge.
„The Spinning Oracle of Delfi“, 1986, eine raumgreifende Amphore, deren Oberfläche im ewigen Glanz des Goldes schimmert, scheint im schwarzen Dunkel ihres Inneren die Fragen der Jahrtausende zu hüten und bereit zu sein, auch unsere heutigen Fragen in sich aufzunehmen. In einem anderen Raum sticht eine zugespitzte Frage in Form eines antiken Dolches, „The Dagger“, 1989, in den goldenen Grund des Raumes – vielleicht mit dem Ziel, die Grenzen dieses Raumes an seinem wunden Punkt aufzusprengen? Und wie in einer Wunderkammer erscheint in einem weiteren Raum „The Unicorn Horn in the white circle“, 1984, der Stoßzahn eines Narwals, ein Unikum aus der Welt der Meeresbewohner, wie zur letzten Ruhe gebettet auf einem weiten seidenen Tuch, dessen Faltungen anmuten wie ein Meer aus weißen Federn.
James Lee Byars ist nicht mehr unter uns Lebenden. Aber schon zu seinen Lebzeiten waren Stühle aus vergangenen Jahrhunderten in seinen Ausstellungen ein Zeichen für die Präsenz des abwesenden Autors. „The Chair of Transformation“, 1989, ist ein solcher Stuhl aus dem 17. Jahrhundert, der umhüllt von einem Zelt aus roter Seide jene flüchtige Heimat des von der Welt nomadisch um die Welt getriebenen Künstlers beschreibt. In der Imagination des Betrachters markiert dieser Stuhl den Raum der Fragen an unsere eigene Existenz, in der der Traum bleibt, die Vielschichtigkeit der eigenen Subjektivität zu erfragen und nach Rimbauds großem Motto: „Ich ist ein Anderer“ lebendig werden zu lassen.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Kunst von James Lee Byars ihren Auftritt in einem barocken Ambiente hat. Und so finden seine Werke von luzider Schönheit und edler Materialität in unseren Räumen in Berlin für die Flüchtigkeit einer Ausstellung ein adäquates Domizil, einen genius loci. „The Palace of Perfect“ formuliert eine Allee der Fragezeichen. Und angesichts der Schönheit dieser Fragen mag die Verunsicherung angesichts einer Welt voller Fragen einer Lust am Fragenstellen weichen. Denn wenn die Frage sich bereits in solcher Vollkommenheit zeigt, wie mag es dann um die Antworten bestellt sein, in deren Knospen bereits die Schönheit erneuter Fragen aufkeimen.
James Lee Byars erste Ausstellung findet 1958 im MoMA in New York statt. Byars hatte an der Kasse des Museum of Modern Art nach der Adresse von Mark Rothko gefragt und aufgrund seines außergewöhnlichen Verhaltens das Kassenpersonal dazu veranlasst, die Kuratorin Dorothy Miller hinzuzurufen. Sie fand Interesse an Byars und seiner Arbeit und ermöglichte ihm in einer Nacht-und-Nebel-Aktion eine Ausstellung seiner Zeichnungen für wenige Stunden in einem der Feuer-Not-Treppenhäuser des MoMA. 1960 erhält er den William-Copley-Preis der Cassandra Foundation in New York. Es folgen Ausstellungen in der Willard Gallery, New York 1961, dem National Museum of Modern Art, Kyoto 1962, Carnegie Museum, Pittsburgh 1964, Gallery 16, Kyoto 1967. 1969 Artist in Residence am New Yorker Hudson Institute und Gründung des „World Question Center“. Im selben Jahr lernt Anny de Decker Byars in New York kennen und lädt ihn zu seiner ersten Ausstellung in Europa in ihre Wide White Space Gallery in Antwerpen ein. Von hier aus nimmt die Karriere von Byars ihren weltweiten Verlauf mit Ausstellungen und Performances: 1972 auf der documenta 5, Kassel; 1974 im Palais des Beaux-Arts, Brüssel; 1977 im Städtischen Museum Abteiberg, Mönchengladbach; 1978 in der Kunsthalle Bern; 1982 im Westfälischen Kunstverein, Münster; 1983 im Stedelijk Van Abbemuseum, Eindhoven; 1984 im Philadelphia Museum of Art, Institute of Contemporary Art, Boston; 1986 in der Kunsthalle Düsseldorf; 1989 im Castello di Rivoli, Turin; 1994 im IVAM, Valencia; 1996 im Henry Moore Institute, Leeds; 1997 in der Fundação de Serralves, Porto; 1999 in der Kestnergesellschaft, Hannover; 2000 im Toyama Memorial Museum, Kawajima; 2000 im Museum Schloss Moyland/ Museum van Hedendaagse Kunst, Antwerpen/ Museum Fredericianum, Kassel; 2004 in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main, dem Whitney Museum of American Art, New York, und dem Massachusets Museum of Contemporary Art, North Adams; 2007 im Museum of Modern Art, New York; 2008 im Kunstmuseum Bern; 2011 im Museum of Art, Pittsburgh; 2013 im Museo Jumex, Mexico City; 2014 im Museo Marino Marini, Florenz und im MoMA PS1, New York; nachdem 2017 seine Skulptur „The Golden Tower“ Teil der 57. Biennale von Venedig war, zeigte im Jahr 2018 zuletzt das M HKA - Museum van Hedendaagse Kunst, Antwerpen, eine umfassende Retrospektive des Künstlers.
Die Ausstellung ist in enger Zusammenarbeit mit dem Estate von James Lee Byars entstanden. Parallel zur Ausstellung „James Lee Byars. The Palace of Perfect“ bei KEWENIG in Berlin zeigt KEWENIG in Palma vom 16. Februar bis zum 16. März. „James Lee Byars. The World Question Center“.