Für den Dresdner Bildhauer Jürgen Schön (*1956) haben Plastiken und Zeichnungen den gleichen künstlerischen Stellenwert. Seine Objekte aus und auf Papier entstehen in kreativer Wechselbeziehung: Im Zentrum von Schöns Beschäftigung steht die unermüdliche Auseinandersetzung mit Räumlichkeit – vom Gegenstand über den Innenraum und die Architektur bis hin zum Stadtraum und zur Landschaft.
Dem unmittelbaren Raumerlebnis entspringen konstruktivgeometrische Skizzen mit Bleistift, Farbstift, Fineliner oder Permanentmarker. In den vergangenen 20 Jahren sind auf Zug- und Autofahrten unzählige Skizzenbücher entstanden, aus denen dann im Atelier bildmäßige Tusche- und Acrylarbeiten hervorgehen können. Diese wiederum sind Impulsgeber für die minimalistischen Papierobjekte, von denen formalästhetische Rückkopplungen an die wiederholte zeichnerische Analyse bildhauerischer Grundformen zurückgeführt werden.
In diesen gestalterischen Kreislauf speist Jürgen Schön das Studiolo im Residenzschloss ein. Inspiriert von den L-förmigen Türrahmungen im Raum hat sich der Künstler an eine Gruppe von fünf im Sommer 2018 entstandenen 12-teiligen Zeichnungsserien erinnert, in denen er sich vielgestaltig mit jeweils zwei vergleichbaren Winkelformen auseinandergesetzt hatte. Drei Serien aus der Werkgruppe wurden ausgewählt und sind in unterschiedlicher Anordnung – als Block, als horizontales Band und als loses Gefüge – in ein auf die Proportionen der drei Wände abgestimmtes Raster eingepasst, so dass sie in ihrer Rhythmik auf die spezifischen Gegebenheiten des Ortes antworten: auf die Wände, den Fußboden, die Decke und die Türöffnungen.
Der Bezug zum Raum resultiert dabei ganz aus Schöns künstlerischer Praxis, mit beharrlichem Interesse abstrakt-geometrische Grundformen aus Objekten und ihren räumlichen Relationen zueinander zu identifizieren. Im Ergebnis erlangt das Studiolo eine gesamtkünstlerische Qualität – Jürgen Schön hat sich den Raum über die Zeichnungen angeeignet und zu einer eigenen plastischen Arbeit geformt.
Die Intervention im Studiolo steht in Zusammenhang mit zwei Ausstellungen in den Staatlichen Kunstsammlungen: der Ausstellung „Tendenz Abstraktion. Kandinsky und die Moderne um 1910“ im Kupferstich-Kabinett sowie der Ausstellung „Zukunftsräume. Kandinsky, Mondrian, Lissitzky und die abstrakt-konstruktive Avantgarde in Dresden 1919 bis 1932 “ im Albertinum. 100 Jahre später zeigt Jürgen Schön, dass abstrakte Bildwelten nichts von ihrer Welthaltigkeit und künstlerischen Relevanz eingebüßt haben.