Ein leeres Blatt Papier stellt einen offenen Raum dar, in dem Künstler bahnbrechende Ideen entwerfen oder Kinder mit unbekümmerter Hingabe kritzeln können. Es ist ein Ausdrucksmittel, das uns ermöglicht, die ersten Erfahrungen mit abstrakten Gedanken als auch primitiven Zeichnungen festzuhalten. Seine vielseitige Verwendbarkeit macht das Papier so wichtig für das Schaffen nahezu aller Künstler. Doodle & Disegno ist eine Gruppenausstellung, in der über 100 Arbeiten zusammengestellt werden, um zu zeigen, dass ein Blatt Papier – sei es mit einer kunstvollen Bleistiftzeichnung oder einem flüchtigen Tuscheklecks versehen – eine Einladung zu einer großen Bandbreite an Gedanken und Gefühlen darstellt.
Als der Beobachtungskünstler Avigdor Arikha wieder zur Figuration zurückkehrte, nachdem er sich jahrelang der modernen Abstraktion gewidmet hatte, verwendete er zunächst Papier und zeichnete ausschließlich mit Bleistift und Tinte, bevor er mit dem Malen begann. Für Amy Feldman stellt Papier ein Versuchsfeld für spontane Gedanken und eine Spielwiese für Experimente dar. Sie zeichnet oft mit Tinte, Filzstift oder Farbe, bevor sie die Ideen ihrer Arbeiten auf Papier in großformatige Gemälde umsetzt. Auf ähnliche Weise verwendet Michael Simpson Papierfetzen, einschließlich alten Zeitungspapiers, um seine Ideen auszuarbeiten, die er dann manchmal auf große Leinwände überträgt. Rachel Howard bedient sich in ihren Gemälden häufig einer Schablonentechnik. Bei ihrem Triptychon Things that Grow (2018) entwickelt sie eine ähnliche Methode, bei der sie gepresste Pflanzen und Blumen mit Tinte auf Papier verwendet, um Bilder mit einer geisterhaften Präsenz zu schaffen. So unterschiedliche Künstler wie Lynn Chadwick oder Bill Viola, die eigentlich als Bildhauer bzw. Videokünstler bekannt sind, nutzen Papier, um ihre Ideen flüchtig hinzuwerfen oder genauer zu erkunden. Und diese Arbeiten haben ihre ganz eigene unverwechselbare Kraft.
Alex Dordoy, Pietro Ruffo, John Stezaker, Henning Strassburger und Nasan Tur betrachten Papier als ein Material, das von bereits bestehenden Konzepten und ihm innewohnenden Eigenschaften durchdrungen ist. Sie verwandeln Fragmente in Skulpturen oder gefundene Bilder durch Collagen in neue Formen. In einer Reihe von Zeichnungen, die mit scheinbar willkürlich ausgesuchten Zitaten von H.P. Lovecraft beschrieben sind, machen sich Jake und Dinos Chapman Seiten aus Malen-nach-Zahlen-Büchern für Kinder zu eigen, wobei sie ein albernes anthropomorphes Tier oder eine idyllische Landschaft fast unmerklich mit Bleistift verändern und die Zahlen dabei meistens unberührt lassen – somit bleiben die Bilder offen für die Vorstellungskraft der Betrachter.
Für viele Künstler ist ihre Arbeit auf Papier mindestens genauso wichtig wie die in anderen Medien. Tim Noble und Sue Webster fertigten eine Reihe von mit verbundenen Augen gemalten Selbstportraits in Tinte an, die besonders direkt und rau wirken. Marius Berceas überaus farbenprächtige Arbeiten auf Papier beschwören eine durch und durch apokalyptische Stimmung herauf, während Joanna Kirks Floating Above Me in Bluest Air (2017) eine schwindelerregende Landschaft in einem alles umhüllenden Blau ist. Für Francesco Clemente ist Papier das ideale Medium für die meisterhaften Aquarelle, die er während seiner häufigen Aufenthalte in Indien malt. Joan Snyder, die nie ohne ein Skizzenbuch auf Konzerte geht, um jederzeit ihre Gedanken aufzeichnen zu können, fertigt farbenfrohe Arbeiten auf Papier, die Eleganz mit Ausdruckskraft verbinden. In Enrique Martinez Celayas großformatigen Porträts von Joseph Beuys und Ernest Hemingway spiegelt sich nicht nur sein Interesse an Geschichte und Literatur wider, sondern die Arbeiten selbst stellen mit Bedacht die einzigartige Eigenschaft von Papier an sich heraus: Haptik, Feinheit und Wärme.
Eine neue Arbeit von Lawrence Weiner bricht mit dem Fokus der Ausstellung. Seine Wandinstallation stellt mit einem großformatigem Schriftzug einen Kontrapunkt zu den Papierarbeiten dar.