Im Zentrum von Andro Wekuas neuer Ausstellung bei Sprüth Magers stehen eine lebensgroße Skulptur aus Neusilber – einer silberähnlichen Legierung aus Kupfer, Nickel und Zink – und eine Gruppe von Gemälden. Die unbenannte Skulptur erinnert an Wekuas frühere Mannequinfiguren und setzt deren subtile Formensprache fort. Die androgyne Figur scheint sich zwischen den Geschlechtern zu situieren; ihr Körper hat etwas Präpubertäres, fast Kindliches. Auf dem Rücken der Skulptur sitzt ein kleiner, schwarzer Bronze-Pegasus mit violetten Flügeln – futuristisches Element, kindliches Spielzeug und mythischer Verweis in einem. Die körperlichen Proportionen dieser Figur wirken nur auf den ersten Blick realistisch, in Wirklichkeit sind sie undenkbar. Die Figur ist ein Kompositum aus verschiedenen, nicht zueinander gehörenden Körperteilen. Vor dem Guss wurde sie aus unterschiedlichen Modellen realer Gliedmaßen zusammengesetzt. Auch die Körperhaltung der Skulptur lotet die Grenzen des physisch Möglichen aus. Sie erinnert an die Jesusfigur in Michelangelos unvollendeter Pietà Rondanini. Im Original steht die Muttergottes hinter ihrem toten Sohn und versucht, ihn aufrecht zu halten. Wekuas Figur steht in einem Bassin, aus parallelen Schlitzen an ihren Armen und Schultern rinnt Wasser. Ihre silbrige Oberfläche befindet sich in ständiger Bewegung und scheint dennoch in einem Zustand immerwährenden Stillstands konserviert worden zu sein. Trotz ihrer offensiven Künstlichkeit scheint diese Figur ein psychisches Eigenleben zu führen. Aller Wahrscheinlichkeiten zum Trotz wirkt sie merkwürdig lebendig.
Die Skulptur ist von einer Reihe malerischer Arbeiten umgeben. Durch eine architektonische Neudefinition des Raumes schafft Wekua eine eigene Betrachtungsebene für die Gemälde und reflektiert zugleich die zentral positionierte Skulptur als Objekt im Raum. Der Entstehungsprozess der ausgestellten Bilder beruht, so wie die Skulptur, auf Strategien von Assemblage und Collage. Häufig sind Fotos Ausgangspunkt für diese Arbeiten. Wekua behandelt diese Fotos wie Archivmaterial. Zuerst finden sie in Papiercollagen Eingang. In einem weiteren Arbeitsschritt werden diese Collagen in verschiedenen Farbschichten durch ein komplexes, malerisches Siebdruckverfahren auf Aludibondplatten übertragen. Die fertigen Bilder entstehen, indem Wekua diese Platten bearbeitet und übermalt. In einem Arbeitsprozess, in dem er kontinuierlich Ölfarbe aufträgt und wieder wegnimmt, Hintergründe verändert, Details verwischt oder hinzufügt, konstruiert er neue Bedeutungskontexte für sein Ausgangsmaterial. Die Dominanz des jeweiligen Farbhintergrunds und die Proportion des in Szene gesetzten Originalfotos erinnern oft an die Tradition der Ikonenmalerei. Der Entstehungsprozess dieser Bilder vollzieht den gleichen selbstreflexiven, abstrahierenden und manchmal auslöschenden Prozess nach, den auch unsere Erinnerung durchläuft. Wekua gelingt es, mehrere Zeitebenen in einem Bild zu komprimieren und der Vergangenheit zugleich eine eigene, poetische Realität entgegenzusetzen. Diese Arbeiten sind nicht als Kommentare auf Vergangenes zu verstehen und erst recht nicht als dessen Rekonstruktion. Vielmehr zielen sie auf dessen vollständige, ästhetische Transfiguration ab.
In den Arbeiten Andro Wekuas kommen immer wieder verschiedene Geographien, Geschichten und Charaktere zusammen. Er reißt diese Elemente aus der Totalität des Lebenszusammenhanges und fügt die so isolierten Realitätsfragmente auf ungeahnte Weise neu zusammen. Subjektive Erinnerungen lösen sich in der Logik von Träumen auf. Latente Eleganz und subtiler Symbolismus setzen die Mechanismen des Unheimlichen in Szene. Kaum jemand kann die dunklen Zwischenräume von Emotion und Erinnerung, die Ambiguitäten von Geschichte, Fantasie und (kunst)historischem Gedächtnis besser ausleuchten als er. Scheinbar mühelos bringt Wekua universelle narrative Strukturen zum Ausdruck und schafft Arbeiten, die zeitlos sind.
Andro Wekua (*1977 in Sukhumi, Georgien), lebt und arbeitet in Berlin, New York und Zürich. Zu seinen Einzelausstellungen zählen unter anderem: Kunsthalle Zürich (Juni bis August 2018), Garage Moscow (bis Mai 2018), Kölnischer Kunstverein (2016), Benaki Museum, Athen (2014), Kunsthalle Wien und Kunsthalle Friedericianum (beide 2011), Wiels, Brüssel und Museion Bolzano, Italien (beide 2010), Museum Bojmans van Beuningen, Rotterdam (2007), sowie Kunsthalle Wintherthur (2006). Ausgewählte Gruppenausstellungen sind: Museum of Contemporary Art, Cleveland, USA (2016), High-Line Art, New York (2015), Pinakothek der Moderne & Brandhorst Museum, München (2015), Palais de Tokyo, Paris (2014), Centre d’Art Contemporain, Genève (2013), New Museum, New York und Venedig Biennale, Venedig (beide 2011), Kunsthaus Zürich (2008), Centre Pompidou, Paris (2006), 4. Berlin Biennale, Berlin (2004).