Am 03. April 1897 gründet eine Gruppe junger österreichischer Künstler die Wiener Secession. Die Vereinigung bildender Künstler Österreichs will sich gegen den am Wiener Künstlerhaus (Genossenschaft der bildenden Künstler Wiens) vorherrschenden Historismus und die Wiederholung der immer gleichen alten Stile auflehnen. Der dort praktizierte Konservatismus läuft der Auffassung der jungen Generation, die sich der Traditionen entledigen will und eine Erneuerung des Kunstbegriffes anstrebt, zuwider.
Wien um die Jahrhundertwende ist nicht nur die Hauptstadt eines Vielvölkerstaates, sondern auch eine der weltweit größten Metropolen, in der das politische und gesellschaftliche Umfeld von der teils widersprüchlichen Atmosphäre des Fin de siècle geprägt ist. Der sich anbahnende Zusammenbruch der Donaumonarchie beflügelt auf allen Ebenen der Kunst Strömungen, die sich angewidert von der Dekadenz eine Erneuerung der Gesellschaft erhoffen.
Das Umfeld der Wiener Secession muss daher als ein letzter kultureller Höhepunkt vor dem Zerfall des Habsburgerreiches verstanden werden, bei dem Malerei, Architektur, Literatur, Musik und Philosophie eine Blütezeit in Form der Wiener Moderne erleben. Der Jugendstil im Besonderen stellt dabei ein europaweites Phänomen dar, bei dem es immer wieder darum geht, sich von dem erdrückenden Einfluss der Akademien zu lösen. In Österreich wird der Jugendstil aufgrund seiner engen Verbindungen zur Secession schließlich auch Secessionsstil genannt.
Der österreichische Designer und Architekt Joseph Maria Olbrich (1867-1908) ist eines der Gründungsmitglieder der Wiener Secession und soll einer der führenden Köpfe der Gruppe, der weitere Künstler wie Gustav Klimt, Koloman Moser, Josef Hoffmann, Max Kurzweil, Josef Engelhart, Ernst Stöhr und Wilhelm List angehören, werden.
Der in Troppau geborene Olbrich kommt in der väterlichen Ziegelbrennerei früh mit dem Handwerk in Berührung. Im Alter von vierzehn Jahren verlässt er das Gymnasium, um ab September 1882 an der Staatsgewerbeschule in Wien das Zeichnen zu lernen. Von einem kurzen Wiener Zwischenstopp im Jahr 1894 abgesehen, unternimmt Olbrich von 1893 bis 1895 Reisen nach Italien (er kommt bis nach Tunis), Deutschland, Frankreich und England. Im Oktober 1890 schreibt sich Olbrich für ein Studium der Architektur an der Wiener Akademie der Künste ein. Schließlich wird Olbrich Mitglied der Wiener Secession.
Die erste Ausstellung der Secession findet 1898 statt; Olbrich entwirft das Ausstellungsgebäude. Eines der Hauptanliegen der Secession ist es, dem österreichischen Publikum einen Einblick in die Kunst des Auslandes zu ermöglichen. Die Gruppe muss somit als Teil einer internationalen Avantgarde angesehen werden, der es zudem um die Neupositionierung der heimischen Kunst geht. Der von Ludwig Hevesi stammende Wahlspruch der Secession lautet: Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit – das Motto findet sich als Inschrift über dem Hauptportal des Secessionsgebäudes wieder. Zeitgleich wird das zentrale Organ der Secession und die wichtigste österreichische Kunstzeitschrift Ver Sacrum (lat. für ‚Heiliger Frühling‘) gegründet.
Olbrichs künstlerische Auffassung orientiert sich stets am Begriff des Gesamtkunstwerks, der Kunsthandwerk, bildende Kunst und Architektur vereint. Eine Anschauung, die auch die Secession verfolgt. Doch Olbrich wird nicht in Wien bleiben. Begeistert von der Architektur des Secessionsgebäudes lädt ihn Großherzog Ernst Ludwig von Hessen nach Darmstadt ein. Dort plant der Mäzen die Gründung einer Künstlerkolonie, die moderne, zukunftsweisende Bau- und Wohnformen entwickeln soll. Olbrich folgt dem Ruf und trifft 1899 in Darmstadt ein, wo er als einziger Architekt führendes Mitglied der sieben Künstler umfassenden Gruppe wird. Die weiteren Mitglieder sind die Jugendstilkünstler Hans Christiansen, Peter Behrens, Paul Bürck, Rudolf Bosselt, Patriz Huber und Ludwig Habich.
Ernst Ludwig stellt den Künstlern in Form der Darmstädter Mathildenhöhe das perfekte Areal zur freien Verfügung. Der Großfürst ist im Gegenstaz zu vielen seiner deutschen Standesgenossen ein Bewunderer moderner Kunst, insbesondere des Jugendstils; während seiner Besuche in England – er ist ein Enkel von Königin Viktoria – beschäftigt er sich mit dem Arts and Crafts Movement, einer frühen Form des Jugendstils in England. Von der Zusammenarbeit von Kunst und Handwerk erhofft sich Ernst-Ludwig wirtschaftliche Impulse für Hessen: „Mein Hessenland blühe und in ihm die Kunst.“
In Darmstadt scheint Olbrich die idealen Bedingungen vorzufinden, um seine Vision zu verwirklichen, die er selbst so formuliert: „Eine Stadt wollen wir erbauen, eine ganze Stadt! Alles andere ist nichts! Die Regierung soll uns […] ein Feld geben, und da wollen wir dann eine Welt schaffen.“ Anschließend führt er aus: „Was nützen drei, fünf, zehn schöne Häuser, wenn darin die Sessel nicht schön sind oder die Teller nicht schön sind? Nein – ein Feld, anders ist es nicht zu machen. Ein leeres, weites Feld, und da wollen wir dann zeigen, was wir können: in der ganzen Anlage und bis ins letzte Detail.“
In seiner Heimat Österreich verfolgt man aufmerksam das Schaffen Olbrichs. Die Zeitschrift Ver Sacrum beschäftigt sich ausgiebig mit der Darmstädter Künstlerkolonie und erkennt ihre zukunftsweisende Rolle: „Das glückliche Darmstadt bekommt damit eine Künstlercolonie, in der eine Reihe unserer vielversprechendsten Talente walten und wirken wird, nicht als eine Schule, als eine Academie im alten Stile, die behaglich den schon bedenklich dünn gewordenen Faden der Überlieferung weiterspinnt, sondern als eine ungebunden schaffende Gemeinde, die mit klaren Augen alle Bedürfnisse des modernen Lebens erfassen und frisch empfindend künstlerisch verdichten wird.“ (Ver Sacrum, Heft 7, Juli 1899)
Als Fazit heißt es darin weiter: „Das kleine Darmstadt wird so zur Kunststadt werden und dem Lande Hessen und schliesslich ganz Deutschland Segen bringen.“ (ebd.)
1901 findet die erste Ausstellung der Künstlerkolonie statt, in deren Rahmen Olbrich das Ernst-Ludwig-Haus auf der Mathildenhöhe als Atelier-Haus entwirft; das Gebäude trägt die auf den österreichischen Schriftsteller Hermann Bahr zurückgehende Inschrift: Seine Welt zeige der Künstler – Die niemals war noch jemals sein wird.
Hermann Bahr, der ebenfalls ein Vertreter der Wiener Moderne ist, gelangt zu einer ersten Charakterisierung der Mathildenhöhe, an der nicht nur die Anzahl der von Olbrich entworfenen Bauten, sondern auch das Ausmaß der inneren Abgestimmtheit seines Werkes deutlich werden: „Nun steht sie da, auf der Mathildenhöhe in Darmstadt. Und wenn er [Olbrich] nun abends nach der Arbeit aus dem Ernst Ludwig=Hause tritt, eben jenem Tempel auf der Höhe, zur Linken sein eigenes, zur Rechten das Haus des Malers Christiansen, unten dort die Häuser Habich und Keller, dahinter das Häuschen Deiters, hier die beiden Häuser Glückert erblickt, über das Haus der Flächenkunst ins stille Grün der Hügel sieht, dann an seinem Hause der Blumen, an seinem Theater, an seinem Portale vorbei durch seinen Garten zu seinem Orchester geht und in sein Restaurant kommt, so kann er hier an Tischen, die von ihm sind, auf Tüchern, die von ihm sind, mit Löffeln und Gabeln, die von ihm sind, spielend sich vergnügen und ist von Zeichen seines Wesens überall umgeben. Es ist alles geworden, was wir damals geträumt haben [...]; es ist nur anders geworden.“ (Ver Sacrum, Heft 14, Mai 1901)
Bahr sieht außerdem ganz klar die Vorreiterrolle Olbrichs und weist auf seine Wurzeln in der Wiener Secession hin: „Wer, um seinen tiefsten Sinn zu verstehen, nach dem Entwürfe fragt, wird sich in Euren Kreis begeben müssen, hier hat Olbrich angefangen = was Ihr ihm, was er Euch gegeben hat, können wir nicht abwägen, aber er ist der Eure, und Euren Ruhm strahlen seine weissen Häuser hell in das Land hinaus.“ (ebd.)
Bahr mangelt es nicht des Lobes für den Gleichgesinnten, der die Ideen der Wiener Secession am umfassendsten in die Tat umgesetzt hat: „Dies alles ist doch unser Werk! [...] Hier hat einmal einer von uns, was in den andern sich noch wirr verschlingt, klar und gross gezeigt und uns ein Beispiel gegeben, dass nicht der Verzichtende, nicht der Entsagende, sondern nur wer die Gewalt sich treu zu bleiben hat, reif werden kann = das sind die Gedanken gewesen, die ich dort auf der Höhe gehegt habe, den Blick zum Odenwald, die Seele nach Euch gewendet, immer nach Euch!“ (ebd.)
In diesen Jahren kann Olbrich auch international Erfolge vorweisen: sowohl sein Darmstädter Zimmer als auch sein Wiener Zimmer werden auf der Weltausstellung 1900 in Paris mit einer Goldmedaille ausgezeichnet. Im Jahr 1905 wird Olbrich zudem als korrespondierendes Mitglied in das American Institute of Architects berufen.
Für die dritte Ausstellung der Künstlerkolonie im Jahr 1908 entwirft Olbrich den berühmten Hochzeitsturm und das daneben errichtete Ausstellungsgebäude. Joseph Maria Olbrich stirbt kurz darauf am 08. August 1908 im Alter von 40 Jahren an Leukämie. In der relativ kurzen Schaffensphase von 1890 bis 1908 realisierte er über 120 Gebäude und Großprojekte.
Die vierte und letzte Ausstellung der Gruppe wird aufgrund des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges abgebrochen. Nach der Abdankung Ernst-Ludwigs besteht die Kolonie faktisch nicht mehr; 1929 wird sie schließlich formell aufgelöst. Trotz der starken Zerstörungen während des Zweiten Weltkrieges zählt das Gesamtkunstwerk Mathildenhöhe heute zu den großen Zeugnissen des Darmstädter Kulturerbes und belegt auf beeindruckende Weise die Kreativität des Visionärs Olbrich. Um es mit Bahr zu sagen: „Seine Stadt auf der Mathildenhöhe ist wie ein Atlas seiner ganzen Entwicklung.“ (ebd.)
Text von Tobias Baum